Als ich am nächsten Morgen aufwachte, schlief Lukas noch tief und fest. Kurz überlegte ich, ob ich aufstehen und Frühstück machen sollte, entschied mich dann aber dagegen. Ich zog mir stattdessen die Decke bis zum Kinn hoch, rollte mich auf die Seite und beobachtete Lukas für einen Moment, der auf der Seite lag, das Gesicht von mir abgewandt, seine braunen Haare ziemlich zerzaust. Dieser Morgen erinnerte mich an die Zeit, bevor er ausgezogen war. Meine Eltern hatten mir oft erlaubt, an den Turnierwochenenden nicht mehr mitzufahren, weil Lukas sowieso zuhause geblieben war und manchmal angeboten hatte, ein Auge auf mich zu haben. Wir hatten ausgeschlafen und irgendwann mittags gemeinsam vorm Fernseher Nutellabrötchen mit O-Saft gefrühstückt. Das war die Zeit gewesen, in der ich wirklich verstanden hatte, dass Lukas mittlerweile Familie war und bleiben würde. Ich hatte ihn nie gefragt, wann ihm das eigentlich klargeworden war. Überhaupt- wir zwei hatten nie viel darüber gesprochen, wie er damit zurechtkam, dass seine Eltern gestorben waren. Als er zu uns gekommen war, war ich einfach zu klein gewesen, um richtig zu verstehen, was passiert war und wie es ihm damit ging. Später war es einfach nicht mehr präsent gewesen und für mich das Normalste der Welt gewesen, dass er dazugehörte. Außerdem hatten uns immer sechs Jahre getrennt. So richtig verwachsen hatte sich dieser Unterschied wahrscheinlich immer noch nicht, dachte ich, als ich an den gestrigen Tag dachte, daran, wie deutlich mir einmal öfter geworden war, wie stark sich Lukas' Leben von meinem unterschied. Wie frei er war. Einfach ausschlafen können und niemandem Rechenschaft darüber ablegen müssen. Einfach selbst entscheiden, wo er nach dem Studium hinwollte und was er danach machen wollte, denn Möglichkeiten gab es- das hatte ich aus dem Gespräch der Jungs deutlich herausgehört, mehr als genug. Einfach die Stadt wechseln und es als Herausforderung ansehen. Ich war so nicht. Ich hatte in den letzten Jahren meine Arbeitszeiten gehabt, ich hatte meine Turniere gehabt, ich hatte am Arbeitsplatz gewohnt. Ulrich hätte mir einen Vogel gezeigt, wenn ich morgens spontan beschlossen hätte, auszuschlafen. Und während ich mir eigentlich selbst ausgesucht hatte, nach der Ausbildung wieder zurück nach Hause zu gehen, fragte ich mich mittlerweile doch, was wirklich hinter der Entscheidung steckte. Ja, zurückzukommen war immer der Plan gewesen, aber ich hatte ihn in den drei Jahren auch nie hinterfragt. Ich hatte nach dem, was in München gelaufen war, einfach nur dorthin zurückgewollt, wo ich sicher war, dass so etwas nicht nochmal passieren könnte. Zurück nach Hause, zurück zu meinen Eltern, zurück zu Paul. Der Gedanke, vielleicht nochmal woanders neu anzufangen, fühlte sich für mich weniger wie eine Herausforderung als ein ziemlich sicherer Horrortrip an.
Als Lukas sich auch zwanzig Minuten später noch nicht rührte, stand ich möglichst lautlos auf und huschte ins Bad. Ich putzte meine Zähne, zog mir den blau-weißen Rock und das weiße T-Shirt vom Vorabend an, band meine Haare zu einem hohen Zopf zusammen und tuschte zur Feier des Tages- immerhin hatte ich frei- meine Wimpern. Als es immer noch still war, als ich das Bad verließ, schnappte ich mir mein Portemonnaie und Lukas' Wohnungsschlüssel und huschte durchs Treppenhaus nach draußen. Obwohl es noch vor neun war, war es schon so warm, dass mir sofort warm war. Ich spürte die Sonne angenehm auf meiner Haut und die Spitzen meiner Haare kitzelten ungewohnterweise meinen Nacken. Ich hatte mein Handy bewusst in der Wohnung liegen lassen und schlenderte, auf der Suche nach einem Bäcker, entspannt in Richtung Innenstadt.
Es war genau elf, als ich Lukas Wohnungstür aufschloss und inständig hoffte, er möge noch schlafen- vergebens.
„Wo warst du?", schallte es mir entgegen, noch bevor die Tür hinter mir ins Schloss fiel. Lukas kam, einen Kaffee in der einen, sein Handy in der anderen Hand, mit einem beunruhigten Gesichtsausdruck aus der Küche.
„Brötchen kaufen.", sagte ich kleinlaut und hielt die Brötchentüte in meiner rechten Hand hoch. „Vielleicht bin ich dabei abgelenkt worden.", fügte ich hinzu. „Aber dafür habe ich Mohnbrötchen mitgebracht."
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Auftauchen
Ficção AdolescenteIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...