Mein Vater hatte beim Verlassen des Vierecks so bedient ausgesehen, dass ich ihm wünschte, irgendjemand nähme ihm möglichst schnell das Pferd ab. Wäre ich vor Ort gewesen, ich hätte mich jedenfalls dazu verpflichtet gefühlt und wäre ich an seiner Stelle gewesen, hätte ich nach dem Auftritt einen Kurzen gekippt. Allerdings wettete ich darauf, dass er stattdessen längst Ursachenforschung betrieb. Nachdem es mit Raindrop am Vortag im Grand Prix Spécial noch zum vierten Platz gereicht hatte, war die Kür echt ein Auftritt zum Vergessen geworden. Grobe Fehler in den Einer- und Zweierwechseln, ein Raindrop, der die ganze Prüfung über so spannig gewesen war, dass sich die Taktfehler gehäuft hatten und ein Schritt, bei dem der Viertakt nur noch mit Fantasie zu erkenne gewesen war: mein Vater hatte offensichtlich kein Mittel gefunden, um den Rappen auf seine Seite zu ziehen und auf der Schlusslinie hatten beide ungefähr gleich unzufrieden mit den Zähnen geknirscht. Pia und ich hatten die Prüfung beide mit immer ungläubiger werdenden Mienen verfolgt und ich hatte über die zerstörte Harmonie von Pferd und Reiter für einen Moment sogar Paul vergessen. Einen solchen Vollaussetzer ausgerechnet bei den Deutschen Meisterschaften zu haben war bestenfalls ungünstig. Irgendetwas musste die beiden in der Vorbereitung völlig aus der Bahn geworfen haben, anders ließ sich dieses Debakel für mich nicht erklären.
„Vielleicht rettet Paul noch die Familienehre.", murmelte Pia und stöhnte leidend auf, als das Ergebnis angezeigt wurde.
„Welche Familienehre?", entgegnete ich und ächzte leise. Kaum hatte Pia seinen Namen ausgesprochen, kämpfte ich gegen den Drang an, ihm zu schreiben.
„Eure Familienehre, weil er immer noch dein Freund ist."
Ja, offiziell war er das wohl immer noch. Inoffiziell hatte ich ja angeblich in den Händen, ob das so bleiben würde. Dabei fühlte es sich für mich längst nicht mehr danach an. Stattdessen hatte ich mehr den Eindruck, an einem morschen Ast zu hängen und darauf zu warten, dass er unter meinem Gewicht nachgab. „Ist er sich da noch sicher? Sei ehrlich, Pia.", fragte ich also und traute mich kaum, sie anzusehen.
Ihre zögerliche Pause hätte mir als Antwort schon fast gereicht. „Er muss gerade einfach mal seine Gedanken sortieren."
„Das hat er zu dir gesagt?"
Pia nickte und ich hätte sie am liebsten darum gebeten, mir zu zeigen, was genau er geschrieben hatte. Falls die beiden denn geschrieben hatten und dieses Gespräch nicht am Telefon geführt hatten. Schweigsam starrte ich auf den Bildschirm meines Laptops und beobachtete abwechselnd die Uhr und die auf meinen Vater folgende Starterin. Es würde noch mindestens eine Stunde dauern, bevor das Springen losging und bis dann Paul dran wäre...
„Muss mal kurz zum Klo.", sagte ich knapp, stand vom Bett auf, fischte mein Handy vom Boden und eilte unter Pias besorgtem Blick aus meinem Zimmer.
Es tutete ausdauernd und während ich versuchte das auszuhalten, schlug mein Herz so fest in meiner Brust, dass ich es nicht nur in meinen Ohren hörte. Ich spürte es sogar am Hals. Was, wenn er nicht dranginge? Was, wenn er ausflippte? Was wollte ich sagen? Was, wenn... Mein Gedanke brach jäh ab, als ich seine Stimme hörte.
„Kim?"
„Hi."
„Hey...?", schob er fragend hinterher, als ob er darauf wartete, dass ich ihm erklärte, weswegen ich anrief.
Zittrig atmete ich aus. Mit ihm zu telefonieren fühlte sich gerade schlimmer als Turnierreiten an. Die Angst davor, einen kapitalen Fehler zu begehen war so groß, dass ich statt meines liebgewonnen Ameisenvolks im Magen einen Wespenschwarm im Kopf hatte. „Du bist gleich dran und ich...wollte einfach sagen, dass...ich weiß, wie gut es für dich aussieht und...ich wünsche dir Glück."
„Danke." Er klang seltsam, als wüsste er selbst nicht, ob er sich jetzt um Distanz bemühen sollte oder nicht.
Bitte. „Ich habe nachgedacht, Paul.", setzte ich an. „Darüber, was ich für eine Freundin sein muss, damit das mit uns funktionieren kann."
„Kim,", unterbrach er mich und ich hatte genau vor Augen, wie er vermutlich gerade mit der Hand über seine Augen strich und den Kopf schüttelte. „das ist schön, aber ich denke gerade auch nach. Das heißt, gerade versuche ich nicht darüber nachzudenken." Er lachte ein trockenes, resigniertes Lachen, an das sich eine Pause anschloss, in der die Lautstärke meines Herzschlags so stark zunahm, dass ich mir fast sicher war, dass Paul ihn hören musste. Ich wollte nicht, dass er nachdachte. Stattdessen gab es nur eine Sache, die ich wirklich wollte.
„Ich will in vier Wochen mit dir in der Nordsee schwimmen.", sagte ich schließlich leise. „Gib mir die Chance, bitte."
„Ich denke darüber nach." , wiederholte er.
„Okay." Mehr würde ich nicht bekommen und trotz des schmerzhaften Stachels, den das unter meiner Haut hinterließ, schob ich masochistisch nicht nur ein „Viel Glück", sondern auch ein vorsichtiges „Ich liebe dich" hinterher. Die Freundin, die ich für ihn sein wollte, konnte daran keinen Zweifel lassen.
Sein aufrichtiges „Danke, Kim" klang noch nach, als er längst aufgelegt hatte und ich trotzdem noch auf dem Badezimmerfußboden saß und meinen Hinterkopf gegen die kühle Wand lehnte.
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...