Widerwillig hob ich meinen Kopf gerade so weit aus dem Wasser, dass meine Ohren nicht länger unter Wasser waren. „Essen ist fertig, Kim!", hörte ich Felix rufen, während der gegen die Badezimmertür klopfte.
„Hau ab.", murrte ich, schloss meine Augen, hielt die Luft an und ließ mich wieder bis zum Haaransatz ins warme Wasser sinken. Nach dem obligatorischen Familienausritt am ersten Weihnachtsfeiertag, bei dem wir alle bis auf die Knochen nass geworden waren, hatte ich mir den Luxus gegönnt, mich in die Badewanne zu legen und mich in aller Ruhe vom warmen Wasser wieder aufwärmen zu lassen. Und jetzt, mit jedem Mal, dass ich unter die Wasseroberfläche ab- und wieder auftauchte, sammelte ich Mut. Ich war noch nicht soweit, einfach vor meinen Eltern auszusprechen, was ich für mich entschieden hatte. Seufzend tauchte ich auf, griff nach dem Shampoo und fing an, mir die Badezusätze aus den Haaren zu waschen. Als ich meinen Haarspitzen noch eine Kur verpasste, bevor ich aus der Badewanne kletterte und mich in eins der riesigen Duschhandtücher wickelte, als ich mich danach noch sehr großzügig und langsam von den Zehen bis zum Haaransatz eincremte und meine Augenbrauen zupfte, wusste ich selbst, dass ich nur versuchte, Zeit zu schinden. Ich hatte mir vorgenommen, jetzt, bei genau diesem Essen auszusprechen, was ich wollte. Wenn ich weiterhin versuchte, Zeit zu rauszuschlagen, wäre der Rest der Familie schon beim Nachtisch, bevor ich überhaupt auf meinem Stuhl säße. Ich atmete tief durch, bevor ich mir meine Leggins und den dicken Winterpulli anzog, die nassen Handtücher aufhängte und dann, nach einem letzten Durchschnaufen, tatsächlich die Tür öffnete und in die Küche ging.
Ich nestelte mit der freien Hand stumm am Saum meiner Leggins herum, während ich meinen Schokopudding löffelte. So richtig kam ich noch immer nicht klar. Meine Eltern hatten nicht viel gesagt. Sie hatten sich angehört, was ich zu sagen hatte und dann mein Gestammel zum Abitur abgenickt- einfach so. Die ganzen Rechtfertigungen, die ich mir in der Badewanne mit dem Kopf unter Wasser noch ausgedacht hatte, hatte niemand hören wollen. Ich hatte offensichtlich unterschätzt, wie ernst meine Eltern meine Auszeit genommen hatten und wie realistisch das Szenario, dass ich als Bereiter erstmal hinschmeißen würde, für die beiden seitdem gewesen war. Statt mir Vorwürfe zu machen, statt schwer getroffen zu sein, hatten die beiden mit mir darüber gesprochen, wie ich mir die Zeit bis zum Sommer, bis zum Schulbeginn- dieses Wort machte mich im Zusammenhang mit mir selbst fertig- vorstellte. Ob ich Turniere reiten wollte, ob ich voll arbeiten wollte, was danach passieren sollte. Am Ende hatten wir beschlossen, dass ich bis zum Sommer die jungen Pferde zuhause reiten sollte und eben meine Donni. Ob und wann ich mit ihr Turniere nennen wollte, sollte ich selbst entscheiden. Ab dem Sommer- und das fühlte sich wirklich komisch an, würde ich noch zwei, drei Pferde mitreiten. Das hatten meine Eltern nicht von mir erwartet, aber ich wollte das. Wenn ich weiterhin zuhause wohnen wollte, wenn sie mich finanziell durchbrachten, dann wollte ich wenigstens ein bisschen mithelfen und mitreiten, so, wie ich es früher schon neben der Schule getan hatte. Der einzige Punkt, an dem ich wirklich wehmütig wurde, waren Milano und L'Oiseau.
„Du kannst Donni behalten, aber die anderen beiden..." Meine Mutter hatte den Kopf geschüttelt und ich, obwohl ich es wirklich verstand und damit gerechnet hatte, hatte bei dem Gedanken daran, dass Lolo wohl schon in den nächsten Tagen den Reiter wechseln würde, heftig schlucken müssen.
„Na, das gibt ja doppelt und dreifach Weihnachten für Paul.", hatte mein Vater daraufhin seufzend erwidert.
„Ist schon klar, dass die beiden zu Paul gehen?", fragte ich. „Alle beide?" Ich gönnte es ihm, von Herzen, aber ich malte mir auch aus, was das im besten Fall für Pauls sportliche Karriere bedeutete- während meine mindestens stillstand.
„Alle drei wohl eher.", murmelte meine Mutter und seufzte. „Lolo, Milano und Nikita geht auch an ihn zurück. Die ist zum Verkaufen doch einfach zu schade."
Alle drei. Jetzt schluckte ich wirklich. Das würde Unruhe im Stall geben und dem ein oder anderen aus dem Team nicht schmecken. „Wieso das?", fragte ich und versuchte, nicht missgünstig zu klingen.
„Weil er härter arbeitet und besser reitet als der Rest.", stellte mein Vater ungerührt fest. „Er kriegt deinetwegen keinen Bonus, er muss die drei auch erstmal erfolgreich geritten bekommen. Die Chance hat er sich aber verdient."
„Ich sehe da schon so eine rote Jacke.", kommentierte Felix grinsend von der gegenüberliegenden Tischseite, zog die beinahe leere große Puddingschüssel zu sich heran und begann damit sie auszulöffeln. Im Stillen gab ich ihm Recht.
„Dazu müssen erstmal alle gesund bleiben und gut zusammenwachsen.", dämpfte mein Vater Felix' Erwartungen, aber der verdrehte nur mit der Schüssel auf seinen Knien die Augen.
„Wem willst du das denn erzählen?"
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Paul wird nachträglich sehr, sehr gut Weihnachten feiern, was meint ihr?
Damit verabschiede ich mich in eine arbeitsintensive Woche. Man liest sich spätestens am Freitag 😄
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...