Part 100

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Mein Vater hatte geseufzt, als ich ihm und meiner Mutter von meinem Gespräch mit Lukas erzählt hatte, auf die Uhr gesehen und sich mit seinem Handy ins Arbeitszimmer zurückgezogen. Er telefonierte mit Lukas, seit fast zehn Minuten. Meine Mutter saß mir am Küchentisch gegenüber und ich sah, wie sie angespannt darauf lauschte, dass die Tür zum Arbeitszimmer aufging. Wir schwiegen, als Felix in seinen Schlafklamotten frisch geduscht aus dem Bad kam und er hob überrascht den Blick von seinem Handy, als er mich am Küchentisch sitzen sah. „Was machst du denn noch hier?"

„Nichts eigentlich.", erwiderte ich seufzend und lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. Mir war nicht danach, ihm zu erklären, dass mir nicht wohl bei dem Gedanken war, dass Lukas alleine in seiner Wohnung saß, während irgendetwas offensichtlich massiv schiefgelaufen war. Wenn alles in Ordnung wäre und ich nur Gespenster gesehen hätte, wäre mein Vater längst wieder bei uns am Tisch.

„Was ist?" Neugierig steckte Felix sein Handy weg und ließ sich auf den leeren Stuhl neben mir fallen. Als er meine Mutter auffordernd ansah, ächzte sie leise.

„Wir wollen nur kurz sichergehen, dass bei Lukas alles in Ordnung ist. Du musst dir keine Sorgen machen, gehe ruhig ins Bett." Sie nickte ihm auffordernd zu, aber Felix machte keine Anstalten, aufzustehen. Stattdessen stellte er seine Füße auf die Stuhlkante und lehnte seine Unterschenkel gegen die Tischkante.

„Dann warte ich auch."

Wenige Minuten später hörten wir erst die Tür zum Arbeitszimmer und dann die Schritte meines Vaters. Er sah besorgt aus, schüttelte aber lächelnd den Kopf, als er uns drei am Tisch sitzen sah. „Wie die Hühner auf der Stange." Er ging an uns vorbei zur Arbeitsfläche in der Küche, nahm zwei Weingläser aus dem Schrank und stellte sie zusammen mit einer Flasche Rotwein auf den Tisch. „Lukas ist unterwegs, er ist in einer guten Stunde hier."

Mir gegenüber entspannte meine Mutter sich sichtlich, griff nach dem Wein und schenkte sich ein Glas ein. „Er kann fahren?"

Mein Vater seufzte schwer, nickte aber. „Er ist 26, nüchtern und wach- er kann fahren."





Anderthalb Stunden später saß Lukas auf dem Sofa, die Ellbogen auf den Knien abgestützt und den Kopf in den Händen vergraben. Vor ihm dampfte ein riesiger Becher Kakao, den meine Mutter für jeden von uns gekocht hatte, während wir auf Lukas gewartet hatten. Lukas hatte kaum gesprochen, seit er angekommen war und nur kurz mit meinem Vater geredet hatte. Er wollte nichts sagen. Ab und an streckte er seine Hand nach dem Kakao aus und trank einen Schluck, sonst rührte er sich kaum. Er war unrasiert und seine Augen starrten ins Leere, wenn er sie nicht erschöpft schloss. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich Lukas noch nie so angegriffen gesehen hatte und war froh, dass ich auf mein Gefühl gehört hatte. Felix, der sich nicht hatte ins Bett schicken lassen, ließ sich neben Lukas aufs Sofa plumpsen und musterte ihn mit großen, mitfühlenden Augen.

„Was ist denn?", fragte er, obwohl Lukas sicher schon zweimal betont hatte, wirklich nicht darüber reden zu wollen.

„Nichts.", murmelte er entsprechend angestrengt, wandte Felix aber immerhin sein Gesicht zu. „Wie geht's dir, Zwerg?"

„Du darfst mich nicht mehr Zwerg nennen, seit ich fünf bin.", entgegnete Felix missbilligend und rempelte Lukas mit seiner Schulter an. Der lachte dunkel und tat den wohl ersten wirklich tiefen Atemzug, seit er die Wohnung betreten hatte. „Wenn du mich Zwerg nennen willst, musst du mir schon sagen, was los ist.", sagte Felix, aber Lukas schüttelte den Kopf und seufzte.

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