Nach diesem Gespräch und dem Jahrestag, von dem ich nicht sicher wusste, ob es wirklich einer gewesen war, rief er mich regelmäßig an. Wir sprachen selten lange, aber er versuchte zuverlässig mich mit Geschichten aus dem Stall oder von seinen eigenwilligen Nachbarn zum Lachen zu bringen und ziemlich oft gelang es ihm. Meistens machten wir einen Bogen um das Thema „wir".
Dann allerdings saß ich spätabends mit Pip, Bella und einer Wolldecke auf Benthes Terrasse und versuchte in meinen Kopf zu kriegen, dass mir kaum noch drei Wochen Strand, Chocomel, Pip und Highlight blieben. Zuhause war nicht mehr weit weg, die Schule war nicht mehr weit weg und die Distanz zwischen Paul und mir, sie würde sich mit einem Schlag auflösen. Ich sah dem mit gemischten Gefühlen entgegen, weil ich mich fraglos auf zuhause freute, vor dem Schulanfang aber mit jedem Tag mehr Respekt bekam und noch immer nicht sicher wusste, ob ich je mit einem guten Gefühl meine Füße über die Schwelle zu Pauls Wohnung setzen würde. Ich wollte es versuchen, das dachte ich nach fast jedem Gespräch mit ihm. Andererseits spürte ich eine bis dahin nichtgekannte Unruhe, wenn er unterwegs war und widerstand nur schwer der Versuchung, meinen Vater zu fragen, ob Paul wirklich keinen falschen Atemzug tat. So wie an jenem Abend. Ich musste ihn einfach anrufen. Ich musste wissen, dass er alleine in seinem Hotelzimmer im Bett lag. Es war das erste Mal, dass ich ihn wieder von mir aus anrief und als er prompt abhob, reagierte er komplett ungläubig, weil er es kaum fassen konnte. An dem Abend deutete ich zum ersten Mal an, dass ich es versuchen wolle und er verfiel als Reaktion auf diese Worte erstmal in Schockstarre, bevor er mich wortreich und umständlich fragte, ob er mich in Renesse besuchen dürfe. Ich zögerte ewig an der Stelle. Renesse, Benthes Haus, der Strand, das alles war ein zweites Zuhause geworden. Ein sehr sicheres zweites Zuhause, in dem ich nicht nur Abstand von den Chaos zwischen ihm und mir hatte, sondern in dem ich gerade in den letzten Wochen Seiten von mir entdeckt hatte, die ich vorher nicht gekannt hatte und die ich ziemlich gerne mochte. Ich hatte dank Marieke und der mörderischen Sportkurse eine ganze Bande von neuen Freundinnen, mit denen ich viel zu oft Frühstücken ging. Meine Niederländischkenntnisse hatten sich von nicht vorhanden auf akzeptabel gesteigert. Ich hatte herausgefunden, dass ich nicht nur gerne Frisbee spielte, sondern auch ziemlich gut darin war. Überhaupt war ich viel weniger unsportlich, als ich immer angenommen hatte. Ich gefiel mir selbst auf den Bildern einer Fotoreihe, die an Mariekes Geburtstag am Strand geschossen wurde und räumte ein, dass mir sonnengebräunte Haut mit meinen von der Sonne aufgehellten Haaren ziemlich gut stand. Außerdem war ich vielleicht kein so schlimmer Grobmotoriker auf dem Pferd, wie ich immer angenommen hatte. Vielleicht ritt ich sogar ganz anständig Dressur. Auf jeden Fall aber vermisste ich meine bunten Stangen und irgendwo im Hintergrund rührte sich der Gedanke in mir, dass wenigstens die ein oder andere Springpferdeprüfung in Zukunft doch drin sein könnte. Der große Kloß in meinem Magen war ziemlich zusammengeschrumpft und rührte sich nur noch selten. Es ging mir gut in Renesse. Ich war mehr als dieses Nervenbündel, als dass ich angekommen war- trotz Paul und dem, was in Balve passiert war. Es gab sie, diese Tage, an denen mich der Gedanke an das, was zwischen ihm und Jenny passiert war, fast zerstörte. Es gab noch mehr Tage, an denen mir der Gedanke daran, wie er mich hatte in der Luft hängen lassen, Tränen der Wut in die Augen trieb. Aber es gab auch mehr und mehr Tage, an denen ich einfach mit meinem Leben beschäftigt war und an deren Ende ich gerne mit ihm sprach, seine Stimme hörte und mir versuchte vorzustellen, wie es wieder werden könnte. Irgendwie tat das gut. Ich lernte zu atmen ohne ihn und mit dem Gedanken an eine Zukunft ohne ihn. Ich verstand, dass ich ihm nicht für mich verzeihen musste, aber es für uns versuchen konnte.
Trotzdem- oder gerade deswegen- war ich nicht sicher, ob ich ihn hier haben wollte. Erst sein Angebot, morgens zu kommen und abends wieder nach Hause zu fahren, überzeugte mich schließlich. Mit den Worten „Lass es uns versuchen" willigte ich also ein und mein dezimiertes Ameisenvolk geriet in Aufruhr, wenn auch nur, um sich die Schutzkleidung anzuziehen.
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Feierabendhappen.
Ob das eine gute Idee ist?
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...