„So ist er nicht.", warf meine Mutter in scharfem Ton ein und funkelte meinen Vater mahnend an. „Jetzt tust du ihm einfach nur Unrecht. Kim, seit du zurück bist, habe ich nicht ein einziges Mal erlebt, das er auch nur verdächtig lange einer anderen hinterhergeschaut hat. Er hatte nur Augen für dich- und das war schmerzlich offensichtlich, lange bevor ihr zusammengekommen seid."
„Davon hat jetzt auch keiner mehr was.", gab mein Vater prompt kühl zurück und bedachte mich mit einem düstern Blick, während ich so gern glauben wollte, was meine Mutter sagte. Ich wollte, dass er eben nicht einfach so war. Ich wollte, dass er einfach einen Fehler gemacht hatte und noch mehr als das wollte ich die Gewissheit, dass so etwas niemals wieder passieren würde.
Ich sagte kaum etwas, während meine Eltern sich minutenlang darüber stritten, wie Paul war oder eben nicht. Sollte ich das nicht am besten wissen? Sollte ich nicht für mich klar haben, wer Paul war? Wer war er? Der Typ, der mit Jenny vorm Hotelzimmer stand? Der, der als ich ihn am nächsten Tag angerufen hatte, scheinbar mühelos vor mir verborgen hatte, was am Abend passiert war? Der, der mich danach mehrere Wochen lang hatte in der Luft hängen lassen? Oder war er der, der mit mir nach Amrum gefahren war? Der hoffnungslose Romantiker, der mit mir Luftschlösser gebaut hatte? Der, der mit mir meine Panikattacke weggeatmet oder mich unzählige Male getröstet hatte? Der, der Thomas eine verpasst hatte, weil er es nicht ausgehalten hatte, wie der über mich sprach? War es wirklich ein und dieselbe Person, die diese Dinge getan hatte? Und wollte ich diese Person? Wollte ich diese Person, die so schwach und feige keine Verantwortung dafür übernommen hatte, was er getan hatte? Mir war bewusst, dass ich unsere Beziehung quasi einem Stresstest unterzogen hatte. Mehrere hundert Kilometer Abstand, mehrere Wochen ohneeinander, meine Alleingänge und mein Misstrauen- ich hatte das nicht vergessen. Ich hatte mir eingeredet, zwischen uns sei alles in Ordnung, alles bombensicher. Rückblickend war von Anfang an nicht alles sturmfest gewesen. Wir hatten beide von Anfang an nicht sicher darauf vertraut, dass wir einander reichten. Ich hatte ihm seine Frauengeschichten nachgetragen und hatte unsere Beziehung in einem Anfall von betrunkener, rasender Eifersucht öffentlich gemacht. Statt es langsam angehen zu lassen, wie wir es beide eigentlich gewollt hatten, hatten er und ich danach auf die Beschleunigungstaste gedrückt. Ich hatte quasi bei ihm gewohnt, er hatte mich mitgenommen zu seiner Familie, er und ich hatten- trotz des Dramas, das unserem Kuss am See vorausgegangen war- alles festgezogen. Es hatte sich sicher und richtig angefühlt, aber wenn ich daran zurückdachte, wie er reagiert hatte, als ich entschieden hatte nach Renesse zu gehen, dann war diese Sicherheit vielleicht so nie dagewesen. War sein Vorwurf, ich würde ihm am Ende noch fremdgehen, vielleicht nur ein weitere Hinweis darauf, dass es mehr Risse unter der Oberfläche gegeben hatte, als ich hatte wahrhaben wollen? Und wenn ja, was sollte das ändern?
„Brauche doch ein Stück Pizza.", log ich, schwang meine Beine aus dem Bett und hastete in die Küche, um dem sich aufheizenden Wortgefecht meiner Eltern zu entkommen.
Die Nacht wurde furchtbar: war ich über Tag noch vor allem wütend und ungläubig gewesen, packte mich in der Nacht eine Erinnerung nach der nächsten. Unruhig zwischen Wach- und Schlafphasen hin- und hergleitend erlebte ich jeden Kuss, jedes Wort und war machtlos der Sehnsucht ausgeliefert, die die Erinnerung an unsere gemeinsamen Pläne auslöste. Am Morgen fühlte ich mich wie gerädert. Ich ließ das Frühstück aus, duschte stattdessen viel zu lange, kämmte und föhnte meine Haare, schminkte mich und zog statt meiner Reitsachen Jeans und T-Shirt an. Ich hatte Angst davor mitgenommen auszusehen. Es war peinlich genug, dass der Grund dafür, dass Paul auszog, sicherlich die Runde gemacht hatte. So etwas blieb einfach nie lange geheim. Ich wollte nicht, dass irgendjemand mich ansah und dachte, dass ich mir deswegen die Nacht um die Ohren geschlagen hatte. Es war ein Versuch meine Würde wenigstens zum Teil zu bewahren, während ich mich gleichzeitig wahnsinnig gedemütigt und verraten fühlte.
Ich saß tatsächlich mit demonstrativ gekreuzten Armen und Beinen, Sonnenbrille und Kaffeebecher neben meiner Mutter auf der Bank am Dressurplatz und hatte meinen Blick auf das einzige geheftet, was mir an diesem Tag ein echtes Gefühl der Freude geben konnte. Donni, deren braunes Fell in der Sonne glänzte und deren Mähne wieder auf eine sportpferdetaugliche Länge gestutzt worden war, trabte locker über den Hufschlag. Brav setzte sie Felix' Hilfen um, der sichtlich konzentriert Bahnfiguren und Tempowechsel ritt, bis sie ihren Hals fallen ließ und anfing abzuschnauben.
„Wie lange reitet er sie schon?", fragte ich nach einer Weile und nippte an meinem Kaffee. Die beiden sahen gut aus. Felix sah sogar ziemlich gut aus bei dem, was er da ablieferte, während man Donni ansah, dass sie körperlich stark abgebaut hatte. Ihre Kruppe war immer noch nicht wieder rund und sie schwitzte schon, bevor Felix überhaupt die Arbeit richtig aufnahm.
„Seit vier Wochen, ungefähr. Ich habe sie selbst geritten, bis wir uns sicher waren, dass sie die unkontrollierte Bewegung auf der Weide aushält. Dann haben wir sie rausgestellt." Seufzend setzte sie sich auf und streckte sich, bis es in ihren Rücken hörbar knackte. „Sagen wir so: ich habe weggeschaut und mir eingeredet, dass du garantiert nie wieder mit ihr aufs Turnier fahren willst. Sie hat einen Freudentanz hingelegt, bei dem ich nicht nur Angst um ihre Beine hatte, aber sie hat es weggesteckt. Seitdem geht sie viel raus und genießt ihr Mittagsprogramm mit Felix. Der lernt was dabei und du kannst richtig antrainieren, wenn du zurück kommst. Wenn du möchtest." Den letzten Halbsatz schob sie eilig nach, als hätte sie Angst davor, mich dazu zu nötigen, die Arbeit mit Donni wieder aufzunehmen. Für mich war das keine Frage. Wenn es überhaupt etwas gab, das ich gerade zweifelsfrei sagen konnte, dann das ich es nicht so richtig erwarten konnte, wieder selbst auf meinem eigenen Pferd zu sitzen.
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Felix darf di-da-Donni für Kimmi fit machen, Julian und Sina können immer noch sehr gut unterschiedlicher Meinung sein und Ki-ka-Kimmi fragt sich, wer ihr Freund eigentlich ist.
Und trinkt Kaffee, bis ihr Kopf frei ist. Was denkt Paul wohl derzeit?
Schönen Samstagabend euch
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...