Meiner Bitte entsprechend hatte er anschließend schweigend aufs Wasser geschaut, ehe er sich umgedreht hatte und wir gemeinsam zurückgelaufen waren.
In Gedanken waren wir wohl beide bei Pia gewesen, bei der Zeit, in der zwischen uns dreien keine komplizierte Geschichte gestanden hatte.
Ich erinnerte mich daran, erinnerte mich so genau an den Tag, als einfach so, still und leise, alles zerbrochen war. Für Pia alles, was sie hatte, ihre Welt, für Paul und mich alles Gewohnte und eine Freundschaft.
Es war ein Morgen gewesen wie jeder andere.
Ein heißer Tag Anfang August, die Sonne brannte vom Himmel, Staub in der Luft- Sommer.
Sommerferien- so glücklich und schön wie selten.
In gewisser Weise war es einfach unser Sommer, Paul und ich räumten mit den Ponys im Parcours alles ab, was wir kriegen konnten, Pia tat das gleiche im Dressurviereck. Und trotz der vielen Turniere und des Trainings waren wir einfach frei. Morgens früh trafen wir uns am Stall, ritten unsere Pferde und halfen im Stall. Den Vormittag über ritten wir Pferde meiner Eltern, während der Mittagshitze lagen wir am Teich, sonnten uns und hielten die Füße ins Wasser. Wir lachten ständig, aßen massenhaft Eis und bestellten gegen den Willen meiner Eltern fast täglich Pizza, bis wir am späten Nachmittag mit den Pferden in den Wald ritten, nicht selten ohne Sattel. Die Rennen, die wir dort veranstalteten, blieben geheim. Manchmal- und das gar nicht so selten- blieben Paul und Pia über Nacht bei mir.
Es war perfekt.
Paul und mir kam es komisch vor, als wir an diesem Augusttag die morgendliche Arbeit ohne Pia erledigen mussten. Sie kam nicht, reagierte nicht auf Anrufe und gab kein Lebenszeichen von sich. Wir machten uns Sorgen, ärgerten uns vielleicht ein wenig, weil sie nicht absagte. Als Paul und ich dann abends mit den Ponys zurückkamen, wartete mein Vater im Stall auf uns. Verstört war das einzige Wort, das ihn hätte beschreiben können und wir beide wussten augenblicklich, dass irgendetwas nicht stimmen konnte, dass irgendetwas Schreckliches passiert sein musste.
Es war leer gewesen im Stall und die Stille hatte alles ausgefüllt, ehe er mit zitternder Stimme erzählt hatte, was passiert war.
Ein simpler Treppensturz hatte Pias Mutter das Leben gekostet.
Wie versteinert hatten Paul und ich da gestanden, versucht zu begreifen, was er uns erzählte, ehe mir unbemerkt die ersten Tränen über die Wangen liefen. Pias Mutter, die so unendlich warmherzig gewesen war, die alles dafür getan hatte, Pia ein Pony und die Turniere zu ermöglichen. Die sich immer gefreut hatte, wenn Paul und ich zum Essen mal mitkamen und so lebhaft und lustig hatte erzählen können.
Für uns war es nicht zu begreifen und wie es sich für Pia angefühlt haben musste, war noch weniger vorstellbar.
Sie hatte keine große Familie. Ein Einzelkind, das bei der Mutter lebte, weil der Vater sich aus dem Staub gemacht hatte. Sie hatte ihn nie kennengelernt und ihn auch nie kennenlernen wollen. „Kein Interesse.", hatte sie spöttisch lächelnd auf die Frage geantwortet. „Was soll ich mit einem Fremden?"
Vielleicht, vermutlich wäre alles anders gekommen, wenn sie nicht so gedacht hätte. Noch am selben Abend hatten Paul und ich versucht sie zu erreichen, fuhren am nächsten Morgen bei ihr vorbei, aber niemand war da. Niemand wusste irgendetwas.
Nach einigen Tagen sickerte durch, dass sie bei ihren Großeltern war. Wo die wiederum lebten, wusste keiner. Niemals ging sie an ihr Handy- es war, als wäre sie verschwunden, als hätte sie nie existiert. Einfach aufgelöst.
Wenig später holte jemand ihr Pony ab.
Jede Bemühung von Paul und mir Kontakt aufzunehmen oder zumindest herauszufinden, wo sie war oder wie es ihr ging, scheiterte.
Paul und ich lebten in ständiger Hoffnung und Enttäuschung, irgendwann Wut, dann Wut auf sich selbst- denn wie konnte man auf Pia in der Situation wütend sein?Wie ich es am Vorabend geahnt hatte, ließ Paul sich am nächsten Tag schon nichts mehr anmerken. Es war einfach, als habe es diesen Tag nie gegeben.
Drei Wochen später bat er mich, Rasputin zu reiten und nickte zufrieden, als der Wallach beinahe mustergültig lief.
Ich selbst musste mir eingestehen, dass er sich anfühlte wie ein völlig anderes Pferd. Nicht, dass er zum Selbstläufer mutiert war, aber man konnte mit ihm arbeiten. Dennoch war ich nach vierzig Minuten verschwitzt und kein Stück traurig, als ich ihn wieder an Paul abgeben konnte. Tatsächlich war er zu stark für mich und ich hatte durchaus realisiert, dass Rasputin schnell begriffen hatte, dass nicht Paul auf seinem Rücken saß.
Ich versuchte einen Haken an die Sache zu machen, konzentrierte mich auf mein neues Berittpferd und ritt ein paar Turniere, ohne dass sich etwas Nennenswertes ereignete. Mein Frühjahr verlief nicht so gut, wie ich es erhofft hatte. Ich ritt bei vielen der wichtigen Turniere nicht vorne mit, sondern im Mittelfeld. Ich landete innerhalb weniger Wochen häufiger im Sand als sonst in einem Zeitraum von zwei Jahren. Und je mehr ich diese Umstände realisierte, desto unkonzentrierter wurde ich. Schließlich schied ich an einem Wochenende in zwei Prüfungen aus und beim dritten Start verzichtete ich auf meine Wertung. Es war wie verhext.
An dem Abend löste ich gereizt die Zöpfchen von Milano und wollte niemanden sehen. Lediglich Simon, der selbst ein mieses Wochenende hinter sich hatte, traute sich in meine Nähe und saß ruhig auf einem Strohballen vor der Box.
„Viel schlimmer kann es kaum kommen.", sagte er und grinste schief. „Kann doch nur besser werden, also brauchst du dich auch nicht zu ärgern."
„Wie soll ich mich nicht ärgern, wenn es derart mies läuft? Wie soll ich da entspannt reiten und mir sagen, dass alles besser wird? Ich bin nicht wütend, weil ein Wochenende schlecht war: Ich mache mir Gedanken, weil seit Monaten nichts klappt."
„Dann entspanne dich. Niemand erwartet im Moment, dass es klappt." Er meinte es gut, das wusste ich nur zu genau. Dennoch erwiderte ich nichts darauf und dachte an meine Eltern, die natürlich nichts gesagt hatten. Sie nahmen den Umstand, dass ich im Moment kaum einmal platziert war gelassen hin, aber ich wusste nicht, ob sie sich insgeheim nicht doch fragten, was eigentlich los war.
„Nicht so einfach.", antwortete ich und zuckte mit den Schultern.
„Du solltest etwas tun, was dich vom Reiten ablenkt.", sagte er und schmunzelte. „Und damit meine ich nicht, dass du hochkonzentriert Bahnen schwimmen sollst."
„Sondern?" Pessimistisch sah ich ihn an.
„Kannst du dich bewegen?"
„Was?"
„Ob du tanzen kannst."
„Vergiss es."
Er lachte und stand auf. „Nächsten Freitag kommst du mit, keine Widerrede."
„Simon, ich bin nicht der Typ dafür."
„Das werden wir sehen."
„Ich habe eine Prüfung am Samstag."
„Du reitest doch bloß eine Springpferde L."
„Das reicht im Moment ja auch schon.", murmelte ich.
Den Rest der Woche arbeitete ich in erster Linie intensiv mit Milano, um einem erneuten Desaster entgegen zu wirken.
Paul half mir, wann immer er Zeit fand und bemühte sich redlich, mir den Pessimismus auszureden, was ihm aber kaum gelang. Ich wusste selbst nicht, was ich eigentlich falsch machte. Es waren Kleinigkeiten, die einfach nicht stimmten. Mal kam ich nicht optimal an den Sprung, mal stimmte das Tempo nicht und manchmal war es auch einfach Pech.
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...