Als ich am nächsten Morgen aufwachte, noch immer in der Jeans vom Vorabend, war mir schlecht. Ich hatte keine Ahnung, wann ich eingeschlafen war und noch weniger Plan davon, wie spät es gerade war, während ich mich nur zu genau daran erinnerte, was zwischen Paul und mir passiert war. Wie wütend er gewesen war, als er gegangen war. Bei dem Gedanken daran hätte ich mich am liebsten wieder unter der Decke verkrochen, wäre liegen geblieben und hätte gehofft, dass sich das schon einrenken würde, dass sich die Wogen schon glätten würden, wenn ich nur lange genug hier liegen bliebe. Ich wusste, dass das nicht passieren würde, nicht dieses Mal. Der kurze Blick, mit dem er mich beim Gehen bedacht hatte, hatte mir deutlich genug gesagt, dass er das nicht mal eben verzeihen würde. Zugegeben, der Spruch war blöd gewesen. Und unpassend in der Situation. Vielleicht auch sehr unpassend. Du bist doch sonst nicht so für Definitionen. Mir war klar, dass ich mich dafür würde entschuldigen müssen. Nachdem er mir zweimal innerhalb einer Woche gesagt hatte, was er fühlte und wollte, hätte ich das niemals sagen dürfen. So richtig gesagt, was er fühlt, hat er aber nicht, meldete sich eine trotzige Stimme in mir zu Wort. So richtig ausgesprochen was er will, hat er auch nicht. Ich wusste, dass das Quatsch war. Ich wusste, dass Paul alles gesagt hatte, was er hatte sagen müssen. Und was er nicht gesagt hatte, hatte in diesem Kuss gelegen. Dieser blöde Kuss. Seine Hände an meiner Taille und seine Lippen auf meinen und dieses Gefühl, nie wieder auftauchen zu wollen aus diesem Moment. Scheiße. Was machen wir hier? Ich hätte besser „Blödsinn" antworten sollen, als diesen Mist, den ich tatsächlich gesagt hatte. Ich schwang meine Beine aus dem Bett und fühlte mich dabei so ekelhaft, dass ich nicht wusste, wie ich durch den Tag kommen sollte. Verkatert, unausgeschlafen und mit dem Wissen im Hinterkopf, wirklich die mieseste Freundin zu sein, die ich für Paul nur sein konnte. Auch als ich mich endlich aus den alten Klamotten geschält hatte und unter der Dusche stand, ging das miese Gefühl nicht weg. Es blieb einfach an mir kleben. Nachlässig band ich mir einen Zopf nach dem Duschen und warf meinem Spiegelbild berechtigterweise einen nervösen Blick zu. Ich sah richtig mies aus. Geschwollene Augen mit dunklen Schatten unterhalb des Augenlids und eine aufgesprungene Unterlippe- allein der Anblick hätte schon gereicht, um mir den Tag zu verderben.
Nervös betrat ich das Stallzelt und atmete erleichtert aus, als ich sah, dass Paul nicht da war. Rasputins Box war leer und ich fragte mich sofort, ob er ihn einfach nur bewegte, oder ob er ihn für das zweite Springen abritt, dass er mit ihm genannt hatte und das gleich starten sollte. Irgendwie hoffte ich, dass er sich dagegen entschieden hatte zu reiten. Rasputins Aussetzer vom Vortag war mir in lebhafter Erinnerung. Müde putzte ich Milano, den ich danach arbeitete. Wir hatten ihn nur für die Prüfung am Freitag mitgenommen und ich hatte deswegen nichts anderes zu tun, als ihn locker zu bewegen. Auf dem Rückweg zum Stallzelt ritt ich am großen Abreiteplatz vorbei und sah aus dem Augenwinkel Paul und Rasputin. So neugierig ich auch war, ich traute mich nicht offen zu den beiden herüberzuschauen und ritt stattdessen am langen Zügel weiter.
„Kim!"
Ich stöhnte leise auf, als ich meinen Namen hörte und tat so, als hätte ich es nicht gehört. Es brachte nichts. Meine Mutter schloss binnen weniger Sekunden zu mir auf und strahlte zu mir hoch- bis sie in mein Gesicht sah.
„Oh." Ihr Lächeln verrutschte. „Alles in Ordnung bei dir? Du..." Sie verkniff sich gerade noch auszusprechen, dass ich fertig aussah.
„Bestens."
„Seid ihr gestern noch so lang unterwegs gewesen?" Ich meinte zumindest einen unterschwelligen Vorwurf herauszuhören.
„Nein.", gab ich knapp zurück.
„Paul sah auch ein bisschen", sie zögerte. „müde aus." Die Aussage war eine Frage, aber ich tat so, als würde ich das nicht merken.
„Ist er mit Rasputin gestartet?", fragte ich stattdessen.
„Ja, ist er. Es war wieder ein bisschen spannend, aber besser als gestern." Sie seufzte. „Mal sehen, ob das noch was wird mit ihm."
Wortlos saß ich vorm Stallzelt ab und führte Milano zu seiner Box.
„Ich habe mit deinem Vater telefoniert."
„Aha?" Mein Vater ritt dieses Wochenende selbst anderswo. Normalerweise hätte ich mich entweder selbst bei ihm gemeldet und gefragt, wie es bisher lief oder mir kurz die Ergebnislisten anzeigen lassen. Aber nach dem gestrigen Tag hatte ich nicht daran gedacht- und mich interessierte auch in diesem Augenblick herzlich wenig, ob Fanjana ihn im Viereck hängen ließ oder nicht.
„Bisher läuft es wohl ganz gut für ihn, er meinte..." Sie brach ab, als Pia auf uns zukam und mir wurde da erst klar, dass die beiden sich auch ewig nicht gesehen hatten, vielleicht kurz am Tag zuvor, nach Pauls Prüfung, aber sicher nicht alleine. „Hi, Pia.", sagte sie und Pia, die mir vorher einen kritischen Blick zugeworfen hatte, lächelte freundlich zurück.
„Hallo, Sina." Sie umarmte meine Mutter als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. „Wie geht's euch?"
„Gut- so viel ändert sich ja nicht bei uns." Sie wirkte ziemlich überrumpelt von Pias Herzlichkeit. „Und selbst?"
„Gut- ich wollte auch mal wieder Turnierluft schnuppern. Niro ist ja leider ins Lager der Freizeitponys gewechselt." Pia lächelte und ich fragte mich, wie sie das schaffte. Einfach weglächeln, dass sie keine Turniere mehr ritt. Nicht, weil sie nicht mehr wollte, sondern weil es nicht ging, weil sich bei ihr eben doch eine ganze Menge geändert hatte.
„Ja, Kim hat das erzählt."
Die beiden kamen ins Plaudern und ich sattelte Milano ab, ganz froh darüber, mich nicht am Gespräch beteiligen zu müssen. Sie kamen von Niro über Pias Studium, ihren Semesterferien zu Lukas, der immerhin gerade sein Studium abschloss.
„Wirklich? Der ist schon fertig?"
„Schon ist gut.", gab meine Mutter zurück und lachte, aber ich hörte aus ihrer Stimme heraus, dass sie stolz auf ihn war.
„Ist Lukas immer noch mit Inga zusammen? Die waren ja schon zusammen, als ich Kim kennengelernt habe."
Ich seufzte leise und warf Pia einen warnenden Blick zu, den sie aber nicht bemerkte. Sie hatte mir den Rücken zugewandt.
Meine Mutter schüttelte den Kopf und ich sah ihr an, dass sie vermutlich über diese Entwicklung noch weniger glücklich war, als ich in den letzten Monaten vermutet hatte.
„Er hat aber eine Neue.", warf ich ein. „Die ist..." Ich verkniff mir auszusprechen, dass ich sie ätzend fand. „Die reitet auch."
„Bei euch?", hakte Pia neugierig nach.
„Gott bewahre!" Meine Mutter schüttelte den Kopf. „Nein. Das wäre...nicht gut."
Nicht gut. Das ließ sogar mich für einen Moment grinsen. Meine Mutter hatte kein Pokerface- kein bisschen und in keiner Sekunde ihres Lebens. So entgeistert wie sie Pia anstarrte, vermutete die berechtigterweise wohl schon, dass Marie längst nicht so willkommen bei uns war wie Inga.
„Lukas mag sie.", versuchte ich eine Lanze für sie zu brechen, merkte aber selbst, dass es dadurch auch nicht besser wurde.
„Das war der schlimmste Diss.", lachte Pia, verstummte aber sofort, als Paul mit Rasputin um die Ecke kam. Nach einem Blick in sein Gesicht verstand ich auch wieso. Wenn ich mies aussah, sah Paul schrecklich aus- und wütend. Als er mich sah, sah ich, wie sein Kiefermuskel sich anspannte und er die Luft anhielt. Er warf mir einen langen Blick zu, während er mit Rasputin an mir vorbeiging, sagte aber kein Wort. Pia und meine Mutter schwiegen und die Atmosphäre war so vergiftet, dass ich mich einfach nur schämte. Jedem musste klar sein, dass es heftig gekracht hatte. Wobei- nicht nur gekracht. Es musste jedem klar sein, dass irgendetwas zwischen ihm und mir passiert sein musste, dass schlimm genug gewesen sein musste, dass er mich jetzt mit offener Feindseligkeit ansah.
Ich bückte mich eilig und kratzte Lolos Hufe aus, um niemanden ansehen zu müssen- und schon gar nicht Paul.
„Jaaa....", hörte ich meine Mutter sagen, offensichtlich nicht weniger peinlich berührt als ich. „Wir sehen uns gleich beim Abreiten. Kommst du mit, Pia?"
„Auf jeden Fall."
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Katerstimmung
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...