„Wenn es nicht reicht, dann fahre ich nach Hause und kündige Montag früh.", sagte er ohne einen Augenblick zu zögern und so wie er es aussprach war für mich offensichtlich, dass er die Entscheidung im Vorfeld getroffen hatte. „Ich werde nicht darauf warten, dass dein Vater mich rausschmeißt."
Das verstand ich und darauf hätte ich an seiner Stelle auch nicht gewartet, zumal ich mir sicher war, dass mein Vater schon einen Kündigungsgrund finden würde, wenn ihm zu Ohren kommen sollte, dass Paul und ich uns getrennt hätten. Wenn. Als ich mich dabei erwischte, wie ich vor lauter Unentschlossenheit anfing, die Fingerkuppe meines linken Zeigefingers zu bearbeiten, verschränkte ich energisch meine Arme vor der Brust. „Ich will nur eines wissen, Paul.", sagte ich dann und wusste nicht, worauf ich eigentlich hoffte. Ich wusste nur, dass seine Antwort auf meine nächste Frage bestimmen würde, ob ich ernsthaft versuchen wollte, ihm zu verzeihen. „Warum hast du nichts gesagt, bis ich bei dir vor der Tür stand?"
Ich hatte nicht mit einer prompten Antwort gerechnet, aber Paul lachte kurz auf, stützte dann seine Ellbogen auf dem Tisch zwischen uns ab und lehnte sich nach vorne. „Als ich am Sonntagmorgen in Balve aufgewacht bin und gerafft habe, dass ich ungefähr mein ganzes Leben in Brand gesetzt hatte, wusste ich nicht, wo ich anfangen sollte. Dein Vater war einen Atemzug davon, mich nicht nur auf seinem Haus, sondern auch aus seinem Betrieb zu werfen. Er wusste es und ich hatte gar keine andere Wahl als es dir zu erzählen. Ich weiß, dass du genau deswegen wahrscheinlich glaubst, dass ich freiwillig niemals etwas gesagt hätte. Das hätte ich aber, weil ich dir nicht hätte ins Gesicht lügen können. Ich wusste nur einfach nicht, wie ich dir erklären sollte, dass ich genau das gemacht hatte, wovor du Angst hattest und weswegen wir uns überhaupt gestritten hatten. Ich wusste, dass danach nichts mehr sein wird wie davor und ich habe es nicht über mich gebracht, mich von dem Davor zu verabschieden." Er sah mich aus seinen blauen Augen heraus offen an und so sehr ich auch nach Unaufrichtigkeit in seinem Blick suchte, so wenig fand ich sie. „Reicht das?", fragte er schließlich sehr leise, ohne den Blick von mir abzuwenden.
„Wenn das Danach anfängt wie das Davor, dann vielleicht." Langsam schob ich meine Hand über den Tisch auf seine zu. Er griff danach, bevor ich es mir anders überlegen konnte und hielt sie fest. Seine Augen hatten längst wieder ihren verdächtigen Schimmer angenommen und er blinzelte unnatürlich oft. Ich hätte darauf gewettet, dass er seinen Atem anhielt, bis ich vorsichtig meine Finger bewegte und mit seinen verhakte. Mein Ameisenvolk rührte sich verschlafen und träge. Die von mir verordnete Schutzausrüstung musste bleischwer sein.
„Vielleicht, ", setzte Paul an und stützte sein Kinn auf seiner freien Hand ab, während zumindest die Idee seines mir so vertrauten, schelmischen Grinsens auf seinem Gesicht sichtbar wurde. „ganz vielleicht, habe ich dafür das richtige Werkzeug im Kofferraum."
Keine Stunde später saßen wir auf Benthes alter Picknickdecke am Strand. Wir waren zum Strand gefahren, hatten dabei aber einen Umweg über den Stall gemacht, um uns umziehen zu können und die Decke holen zu können.
„Du hast also doch die Wetterapp gecheckt.", hatte ich zu Paul gesagt und auf seine Badehose gedeutet, während wir die Decke ausgebreitet hatten.
„Habe ich nicht.", hatte er widersprochen und nach einem kurzen Blick aufs Meer hatte er hinzugefügt: „Ich wäre wirklich auch bei Regen mit dir hergekommen. Du wolltest mit mir in der Nordsee schwimmen und ich hätte das bei jedem Wetter wahrgemacht." Er hatte vage gelächelt, sich auf der Decke niedergelassen und sich sein T-Shirt über den Kopf gezogen. „Das war immerhin unser Plan, oder?"
„Ja, das war er wohl.", hatte ich geantwortet und war neben ihm in die Knie gegangen. „Ich hätte nicht gedacht, dass du dich daran erinnerst." Es schien Jahre her zu sein, dass wir uns Pläne für unsere gemeinsamen Wochenenden gemacht hatten.
„Es war unser Plan.", wiederholte Paul und atmete mit Blick aufs Meer tief durch. Unser Plan. Darüber dachte ich seitdem stumm nach. Ich wusste, dass er mir damit sagen wollte, dass für ihn unsere Träume noch Bestand hatten, aber ich war mir nicht sicher, ob ich das schon von mir behaupten konnte. Ich wollte das mit uns versuchen- und war mit diesem Strandausflug in diesen Versuch abgetaucht. Meine Ameisen schwitzten in ihrer Schutzausrüstung, während sie zunehmend lebendig herumkrabbelten. Damit hatten sie angefangen, als er den Picknickkorb, mein Weihnachtsgeschenk an ihn, mein Versprechen auf einen weiteren, unbeschwerten gemeinsamen Sommer und gleichzeitig die Erinnerung an unseren Kuss am See, aus seinem Kofferraum geholt hatte. Diese Geste bedeutete mir mehr, als ich in diesem Moment zeigen konnte.
„Paul?" Ich streckte vorsichtig meine Hand nach seinem Arm aus und er wandte sich zu mir um. „Unsere Pläne..."
„Was ist damit?", fragte er.
„Damit müssen wir ein bisschen langsam machen, okay?" Ich mochte abgetaucht sein für den ziemlich mutigen Versuch, den Weg zu ihm wieder zu finden. Mutig genug für den Weg in seine Wohnung wollte ich aber noch nicht sein. Genauso wenig wie ich den Weg zu seiner Familie gehen oder ihm den zu meiner ebnen wollte. Alles zu seiner Zeit. Wir hatten damals drei Schritte auf einmal gemacht und alles festgezurrt, um einander nie wieder loslassen zu müssen- und nie wieder loslassen zu können. Ich hatte damals auf dem Vereinsturnier unsere Beziehung öffentlich gemacht, weil ich jedem hatte zeigen wollen, dass er zu mir gehörte. Nicht nur, weil ich so glücklich gewesen war, sondern weil ich in meiner Unsicherheit alles getan hätte, um mein Revier abzustecken. Dieses fragile Band hatte nicht gehalten. Den Fehler wollte ich nicht noch einmal machen. Ich wollte einen stabilen Boden, ein echtes Fundament, bevor wir wieder in die Höhe bauten und schmerzhaft abstürzten. Ich wollte unsere Luftschlösser gegen Betonpfeiler tauschen. Als ich das aussprach, lachte er und nickte langsam.
„Betonpfeiler sollen es sein." , bekräftigte er.
„Bist du sicher, dass du verstehst, was ich damit meine?", fragte ich zögerlich, weil er meine Bitte so leicht nahm, als würde ich um quasi nichts bitten. „Ich ziehe nicht bei dir ein. Ich bleibe bei meinen Eltern wohnen. Und wir..."
„Werden Zeit brauchen.", beendete er meinen Satz und wurde ernst. „Ich weiß, Kim. Ich bin nicht hergefahren, damit alles ist wie davor. Ich weiß, dass es kein Davor mehr gibt." Er seufzte und hob die Hand, wie um meine Wange zu berühren, zögerte dann aber und ließ sie wieder auf seinen Oberschenkel sinken. „Weißt du, dass ich dich gern küssen würde, mich das aber nicht traue? Weißt du, dass ich dir noch tausend Dinge erzählen will, aber nicht weiß, ob das nicht den Moment verdirbt? Weißt du, dass..."
Ich brachte ihn zum Schweigen, in dem ich ihm fest in den Nacken griff, mich zu ihm herüberbeugte und meine Lippen fest auf seine drückte. Ein überraschtes Geräusch entwich seiner Kehle, bevor er meinen Kuss überrumpelt erwiderte. Seine Lippen auf meinen, der Geruch der Sonne auf seiner Haut und meine Finger in seinem Haar ließen mein Herz am Limit klopfen. Es war wie Springen vom Zehnmeterturm- beängstigend, krass und euphorisierend. Es war wie es eben war Paul zu küssen- fantastisch. Immer noch. Trotz aller Zweifel, die ich selbst mit diesem Kuss hatte überwinden wollen und müssen. Er war er – immer noch. Und irgendwie waren wir auch noch wir, wenn auch anders. Als ich spürte, wie er sich zurücknahm, wusste ich ohne hinzusehen, dass er seine Finger fest in die Decke krallte. Er wollte dieses Fundament wirklich.
„Küssen ist okay.", flüsterte ich, als ich meinen Kopf hob. „Reden ist auch okay."
„Okay." Er holte tief Luft und räusperte sich. „Das ist eine gute Info, weißt du?"
„Weil du dich darauf einstellen musst?", fragte ich und schlug ihm spielerisch gegen den Oberarm.
„So ungefähr.", murmelte er und schluckte schwer. „Küssen ist also quasi wie Beton gießen?"
„Eher wie Untergrund ausgeben." Damit ließ ich mich lang auf die Decke sinken und verschränkte meine Arme hinter meinem Kopf. „Ein Schritt nach dem anderen, Paul."
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Ich würde sagen, sie versucht es. Was sagt ihr zu Luftschloss vs Betonpfeiler?
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...