Am nächsten Morgen ließ ich es ruhig angehen. Pip hatte irgendwann morgens, da war es zwar noch dunkel, auf dem Hof wurde aber schon gearbeitet, so beharrlich mit seiner Pfote an der Zimmertür gescharrt, bis ich ihn hereingelassen hatte. Ich hatte kurz überlegt, ob ich aufstehen und im Stall mithelfen sollte, mich dann aber doch wieder hingelegt. Es war so ruhig, so gemütlich und ich zog mir die Decke über den Kopf und döste wieder ein, Pips leises Schnarchen im Ohr. Ich blieb bis nach zehn liegen, sah dabei zu, wie die Farbe des Himmels sich langsam von schwarz über dunkelblau zu grau wechselte, schickte Paul ein Bild von Pip und meinem nicht weniger verschlafenen Selbst und bekam als Antwort ein Bild von Fias Mähnenkamm und ihren gespitzten Ohren, versehen mit dem Kommentar „Immer dieses faule, urlaubende Blondie." Ich wollte schon mit einem zufriedenen Seufzen mein Handy zur Seite legen, als Paul erst eine und dann noch eine Nachricht hinterherschickte. „Ich bin neidisch auf den Hund", wurde unmittelbar gefolgt von „Ich würde ungern lange auf dem Teppich bleiben". Grinsend richtete ich mich auf, tippte ein simples „Noch sechsunddreißig Stunden" als Antwort, kraulte flüchtig Pips Kopf und ging duschen. Noch sechsundreißig Stunden. Dann wäre ich wieder zuhause. Bei Paul. Das mir seit dem Sommer so gut bekannte Ameisenvolk geriet in Aufruhr, brachte Haut und Bauch gleichermaßen zum Kribbeln und weckte eine Vorfreude, die ich auf meiner Zunge schmecken konnte und die sich selbst dann, als ich das Wasser der Dusche auf kalt stellte, kaum beruhigen ließ.
Nach einem weiteren sehr niederländischen Frühstück – Benthe hatte mir Weißbrot und Schokostreusel stehen lassen- ging ich in den Stall, wo ich eine Weile beim Unterricht zusah, mich kurz mit einer von Benthes Bereiterinnen unterhielt und dann in kniehohen Gummistiefeln durch den Matsch watete, um Highlight von der Winterweide zu holen. Wie am Vortag kämpfte ich vergeblich darum, ihre weißen Beine sauber zu bekommen, sah irgendwann die Sinnlosigkeit meiner Bemühungen ein, sattelte, ritt entspannt Schritt und fing mit der lösenden Arbeit an, während mein Vater noch mit der Reiterin vor mir beschäftigt war. Als sich das mehr und mehr zog, nahm ich Highlight mehr auf, probierte mich selbstständig durch die Seitengänge und musste nach meinen kritischen Blicken in den großen Hallenspiegel anerkennen, dass Highlight eine Menge tat, um mich gut aussehen zu lassen und ich ihr unterdessen das Leben schwer machte. Dressurreiten wurde eben irgendwann wirklich kompliziert, das hatte ich schon immer gesagt.
„Reiten macht Spaß, Kim!", sagte Benthe irgendwann laut, als ich an ihr vorbeiritt und mein erster Impuls war die Augen zu verdrehen. Stattdessen riss ich mich zusammen, parierte zum Schritt durch, gönnte mir und Highlight eine Runde am hingegebenen Zügel und dachte unwillkürlich daran, dass Benthe eigentlich recht hatte. Das hier sollte Spaß machen. Das sollte Urlaub sein. Es musste nicht funktionieren und ich musste niemandem irgendetwas beweisen. Erst am Vorabend hatte ich doch gemerkt, dass mein Entschluss, die berufliche Reiterei erstmal an den Nagel zu hängen, sowieso stand, aus echter Überzeugung. Mal abgesehen davon, dass mein Vater wusste, dass ich irgendwann bei der unabhängigen Koordination von rechtem und linkem Bein und Arm und Handgelenk und Fuß und Zehenspitze sowieso aussteigen würde. Das war mir längst nicht mehr peinlich vor ihm- das war halt so. Kopfschüttelnd nahm ich die Zügel auf, wiederholte mehrmals in meinen Gedanken „Das ist Urlaub", ließ die Sorgenfalte von meiner Stirn verschwinden und trabte wieder an.
Was dann im Unterricht passierte, ließ selbst mich staunen. Nicht, dass ich zum Dressurreiter mutiert wäre, aber ich probierte aus, ich machte einfach. Viele der Lektionen, die ich lange nicht geritten war, gingen am Anfang ziemlich daneben, aber mein Vater packte seinen Perfektionismus zur Seite und unterstützte mich beim Herumprobieren. Er griff nicht zu viel ein und ich kam dazu, meine Fehler nicht nur zu fühlen, sondern auch zu sehen, was sie bewirkten und genau das brachte mich schließlich erstaunlich schnell dahin, dass ich anfing zu verstehen, wie ich Highlight unterstützen musste. Wie schon am Vortag war das Bild, dass die Stute und ich abgaben, am Ende der Stunde ein gänzlich anderes als am Anfang und als ich bei der letzten Traversale wieder in den Spiegel blickte, war ich nicht nur mit Highlight, sondern auch mit mir zufrieden. Benthe, die Highlight fürs Trockenreiten in eine dicke, weiche Abschwitzdecke hüllte und mir meine Jacke reichte, sagte schmunzelnd: „Siehst du, du hättest gar nicht so biestig gucken müssen am Anfang. Ihr zwei seht gut aus zusammen."
Das hielt ich für übertrieben, bis wir am frühen Nachmittag mit allen Lehrgangsteilnehmern in Benthes Wohnzimmer saßen und das Videomaterial anguckten, dass sie aufgenommen hatte. Vielleicht hatte Benthe recht- vielleicht hatte das am Ende gar nicht verkehrt ausgesehen. Mein Vater fand lobende Worte dafür, wie schnell ich mich auf die Stute einstellen konnte und Benthes Bereiterin Marieke, mit der ich am Vormittag schon kurz gesprochen hatte, nickte mir anerkennend zu. „Sehr cool, ein Selbstläufer ist Highlight echt nicht." Diese Worte von ihr zu hören fühlte sich noch unvergleichlich viel besser an, als wenn es von meinem Vater oder Benthe gekommen wäre. Zum einen, weil sie die Stute vermutlich am besten kannte, zum anderen, weil sie das Lob ganz ohne Hintergedanken aussprach. Ich freute mich wirklich und als Marieke mich mit einem Blick auf die Uhr fragte, ob ich nicht Lust hätte, sie mit einem der Pferde zum Strand zu begleiten, stimmte ich begeistert zu.
Obwohl ich auf dem Rückweg mit den Zähnen klapperte, war ich in meinem Endorphinrausch so gefangen, dass mich die Kälte kaum störte. Marieke drehte sich immer wieder grinsend zu mir um und machte Witze über meine knallroten Wangen und das überwältigte Strahlen auf meinem Gesicht.
„Du machst das ständig.", rief ich ihr zu und lachte noch immer atemlos. „Du bist abgehärtet."
„So fertig sah ich auch nach dem ersten Mal nicht aus." , giggelte sie und klopfte ihrem Pferd den Hals.
„Du bist ja auch nicht mit dir da langgefetzt." Und langgefetzt war eine harmlose Beschreibung davon, wie wir das menschenleere, lange Stück Strand entlang galoppiert waren. Mein Herz schlug immer noch schneller als normal und Dia, die schwarze Ponystute, die ich ritt, schnaubte alle paar Meter so beherzt ab, als wolle sie sich Sand aus den Nüstern prusten. Ich hatte jedenfalls nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet Marieke, deren Fingernägel unter den Reithandschuhen frisch lackiert waren und die auf dem Pferd besser geschminkt war als ich, wenn ich Pauls Familie besuchte, so Gas geben würde. Glatte Fehleinschätzung. Ich hatte auf den ersten Metern so viel Sand ins Gesicht bekommen wie zuletzt als Jugendliche mit Paul und Pia im Wald.
Wir kamen gerade noch rechtzeitig vor der Dämmerung zurück, versorgten die Pferde und ich half Marieke danach noch beim Füttern. Als ich mich danach ins Haus verabschieden wollte, weil ich mittlerweile doch die Kälte spürte und meine Fußspitzen dafür umso weniger, fragte sie mich, ob ich nicht noch mit ihr und einigen Freunden etwas trinken gehen wolle, statt auf Benthes Sofa zu versacken. Ich zögerte, ernsthaft hin- und hergerissen zwischen einem gemütlichen Kaminfeuer und der Aussicht, noch rauszukommen, stimmte dann aber zu. Ich war neugierig, Marieke war witzig- und immerhin war ich irgendwie im Urlaub.
-----
Kim auf ganz neuen Wegen. Und das alles nur, weil sie "Urlaub" macht? ;)
DU LIEST GERADE
Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...