Part 72

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Paul und ich hatten noch eine Weile über Pia und Viktor gesprochen, wobei ich das Gefühl nicht loswurde, dass Pauls Stimmung mit jeder Minute schlechter wurde, unabhängig davon, wie viel Eis er in sich hineinschaufelte. Ich hatte ihm irgendwann die Packung überlassen und lieber mit etwas Distanz dabei zugesehen, wie er den Rest alleine aufaß. Als er fertig gewesen war, hatte er leere Packung entsorgt und mich rausgeworfen.

„Ich bin müde.", hatte er gesagt und mir von der Küche aus zugenickt. „Lässt du mich schlafen? Nochmal zu spät kommen sollte ich morgen besser nicht." Er hatte sein Gesicht verzogen und ich ahnte, worauf er hinauswollte. Nicht, dass jemand mir nachhält, du müsstest auf dich aufpassen. Es wäre nicht deutlicher geworden, wenn er es buchstabiert hätte.

„Sicher doch." Müde war ich aufgestanden und hatte versucht, mir nicht anmerken zu lassen, wie mich der Rausschmiss enttäuschte. Ich wäre gern geblieben. Einfach so und ohne Hintergedanken. Ich hätte mich einfach gern in seinem Arm eingerollt und die Augen zugemacht. Stattdessen hatte ich nichts gesagt, ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange gegeben und war zu mir rübergegangen. Seitdem lag ich wach im Bett und starrte meine Zimmerdecke an. Hätte ich ihm sagen sollen, dass ich gern geblieben wäre? Hätte das irgendwas geändert? Oder war es nur richtig gewesen, ihn einfach in Ruhe zu lassen? Leise fluchend drehte ich mich auf die Seite und schloss die Augen. Höre auf, dir den Kopf darüber zu zerbrechen, sagte ich mir selbst. Es bringt nichts. Trotzdem drehten sich meine Gedanken unablässig weiter im Kreis und nach einer durchwachten Nacht zog ich morgens um fünf meine Laufschuhe aus einem der unausgepackten Kartons und ging Laufen. Als meine Seitenstiche mich einholten,- und das ging schnell nachdem ich seit Monaten nicht mehr gelaufen war- mir das Atmen wehtat und ich viel zu schnell für meine fehlende Kondition den Waldweg entlang rannte, da erst war mein Kopf ruhig.



Durchgeschwitzt und nach Luft ringend bremste ich ab, als ich wieder auf dem Hof ankam. Meine Knie zitterten von der Anstrengung und während meine Lunge fast wehtat, fühlte ich mich wenigstens wach und klar. Nicht, dass ich jemand anderem empfohlen hätte, wie von Sinnen durch ein Waldstück zu rennen, um den Kopf zu sortieren, aber für mich hatte es funktioniert. Es ist Paul, sagte ich mir immer wieder. Es ist Paul, den du seit Ewigkeiten kennst. Es ist Paul, der dir nie was Böses gewollt hat. Rege dich ab und sei keine blöde Kuh. Er hatte es nicht verdient, von mir behandelt zu werden, als stünde er unter dem Verdacht, mir mit einem Mal was Böses zu wollen. Er hatte mich gefragt, ob ich ihm vertraute und ich hatte das bejaht. Dass ich mich jetzt davon beeindrucken ließ, dass mein Vater sagte, ich solle auf mich aufpassen, war daneben. Dass ich ihn das auch noch spüren ließ, war ungleich mehr daneben. Wenn ich das nicht hinbekam, dann hätte ich nein sagen müssen. Das hatte ich nicht. Tief luftholend blieb ich stehen, stemmte meine Hände in die Hüften und holte tief Luft. Es war noch ziemlich frisch draußen und ich bekam Gänsehaut, während ich in kurzer Hose und T-Shirt durchgeschwitzt zum Haus rüberging. Vermutlich gab ich ein ziemlich zerstörtes Bild ab. Bevor ich die Tür erreichte, ging sie auf und meine Mutter trat nach draußen, einen Kaffeebecher in der Hand. Sie lachte nur, als sie mich sah.

„Was hast du denn gemacht?"

„Ich war laufen.", brachte ich zwischen zwei tiefen Atemzügen hervor. „ohne Kondition."

Sie schmunzelte. „Du bist meine Tochter."

„Du hast keine Kondition, weil du rauchst."

„Ich rauche nicht.", erwiderte sie und bemühte sich dabei um einen empörten Gesichtsausdruck.

„Und ich bin nicht außer Atem.", schnaubte ich und musste husten.

„Sage Kim- wie voll ist dein Zeitplan heute?", fragte sie, plötzlich nachdenklich, während ich meine Hände oberhalb der Knie aufstützte.

„Geht so. Wie immer. Wieso?"

„Ich würde dich nachher gerne mal entführen. Schaffst du sechszehn Uhr?"

„Das wird knapp." Abgesehen davon wollte ich eigentlich nach der Arbeit in Ruhe mit Paul reden und mich entschuldigen. Vielleicht danach zum Verein fahren, wo das Heimturnier am Nachmittag starten würde. Freitagabends wurde dort traditionell gut gefeiert und Paul hatte mir in den letzten Jahren immer sehr betrunkene Sprachnachrichten geschickt, in der er mir versichert hatte, dass die Party ohne mich nur halb so viel Spaß machte.

„Knapp klingt machbar." Sie lächelte und tätschelte mir im Vorbeigehen die Schulter. „Und jetzt gehe duschen, du erkältest dich sonst nur."


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😎 schönen Samstag

AuftauchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt