Part 75

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Lukas hatte anschließend versucht zu retten, was zu retten war: Er erzählte von seiner Masterarbeit, seiner Arbeit und sogar seiner Trennung von Marie, aber Felix starrte unbeteiligt ins Leere und auch ich ließ meinen Mund lieber geschlossen. Meine Mutter hörte zu, bemühte sich darum, ihm zuzuhören und das Gespräch aufrechtzuerhalten, aber immer wieder schaute auch sie in die Ferne und nickte einfach. Als wir uns vor der Rückfahrt von Lukas verabschiedeten, umarmte ich ihn als Letzte, während die anderen beiden schon zum Auto gingen.

„Wie kann sie so blöd sein.", flüsterte ich ihm ins Ohr.

„Ich rufe dich nächste Woche deswegen an.", antwortete er leise und drückte mir einen Kuss auf die Wange. „Rege dich nicht auf."

„Wieso nicht morgen?" Ich wollte unbedingt ungestört mit ihm sprechen, ich wollte mich aufregen und sicher nicht gleich vernünftig und ruhig im Auto sitzen und meinen Mund halten. „Oder komme doch einfach mit nach Hause." Dann könnte ich bei ihm mitfahren und müsste die direkte Nähe zu meiner Mutter nicht ertragen.

„Ich bin unterwegs am Wochenende." , sagte er viel zu beiläufig und wurde augenblicklich rot unter meinem prüfenden Blick.

„Du fährst nach Berlin." Trotz meiner miesen Laune musste ich grinsen. „Wie war das mit dem Kurztrip zum Brandenburger Tor?"

„Ich mache einfach einen Städtetrip- mit Juan wohlgemerkt. Bei dem du dich übrigens nicht gemeldet hast."

„Wir müssen am Montag wirklich telefonieren." Ich drückte ihn nochmal, ehe ich mich von ihm löste und zum Auto ging. Bevor ich einstieg, wandte ich mich ihm noch einmal zu. „Viel Erfolg!", rief ich. Und mache keinen Scheiß, fügte ich in Gedanken hinzu.




Während der Autofahrt starrte ich aus dem Fenster. Felix stellte sich direkt schlafend und ging damit jedem Versuch der Kontaktaufnahme geschickt aus dem Weg. Als ich nach mehreren Minuten meine Hand ausstreckte und das Radio anmachen wollte, hielt meine Mutter meine Finger fest.

„Was soll das?", murrte ich ungehalten und zog sie ihr aus der Hand.

„Kim..." Sie seufzte. „Es war ein Gedanke. Verurteile mich nicht für einen Gedanken."

„Doch.", sagte ich barsch und ohne sie anzusehen. „Außerdem war es mehr als ein Gedanke. Von einem Gedanken würde ich nämlich nichts wissen. Du hast mit Papa gesprochen und mit uns gesprochen. Du meinst das ernst."

„Ich habe euch um euren Rat gefragt, weil mir eure Meinung wichtig ist. Ihr könnt euch mit dem Gedanken nicht anfreunden und gut ist. Die Sache ist erledigt."

„Ist sie nicht. Du hast eben klargemacht, dass du dich sehr wohl mit dem Gedanken anfreunden kannst, Lukas, mich, Felix und Papa hier alleine sitzen zu lassen. Für mich ist gar nichts erledigt."

„Es fehlt mir einfach so.", sagte sie mit erstickter Stimme. „Kannst du das nicht ein bisschen verstehen?" Sie sah mich an. „Lukas ist aus dem Haus, du bist erwachsen, Felix..."

„Gucke nach vorn. Es sei denn, du willst uns noch umbringen, bevor du gehst.", fuhr ich sie an. Insgeheim rechnete ich in dem Moment, in dem ich den Satz aussprach damit, dass sie ausrasten würde. Vielleicht hatte ich sie auch provozieren wollen. Umso unzufriedener war ich, als sie einfach ihren Blick von mir abwandte.

„Ich will doch gar nicht, dass du einverstanden bist, aber kannst du für fünf Minuten versuchen dir vorzustellen, warum ich darüber nachgedacht habe?", sagte sie flehentlich.

„Damit ich dann doch einknicke?"

„Damit du mir diesen Gedanken verzeihen kannst. Bitte, Kim."

„Ich verzeihe dir gar nichts. Das war längst ein Plan und den kannst du dir selbst verzeihen." Ich sah noch, wie sie sich fest auf die Unterlippe biss, dann drehte ich mich weiter zum Fenster. Bis wir zuhause waren, wandte ich mich nicht mehr um. Ein, zweimal hörte ich sie unterdrückt schluchzen. Ich hoffte einfach nur, dass es wehtat, richtig wehtat. Hoffentlich mehr, als dieser Drecksplan mich oder Felix verletzt hatte. Ingolstadt- mir wäre kaum ein größerer Verrat an uns eingefallen, zumindest nicht innerhalb von Deutschland. Als sie das Auto abstellte, hatte ich die Tür schon aufgerissen während der Motor noch lief und lange bevor sie ausgestiegen war, hastete ich schon die Treppe zur Haustür hoch. Kaum hatte ich die Wohnungstür hinter mir zugeknallt, sah ich auf mein Handy. Es war fast sieben. Paul wollte um halb acht los, sich mit Freunden am Turnierplatz treffen, ein bisschen zusehen und das ein oder andere Bier trinken, das wusste ich. Ich könne mitkommen, wenn ich wollte, wenn ich es rechtzeitig zurückschaffen sollte. Das hatte er geschrieben. Kurz nachdem ich diese blödsinnige Unterhaltung über diesen Wahnsinnsplan hatte führen müssen. Ich hatte so unbedingt vorher mit ihm über dieses Vertrauensding reden wollen, darüber, dass ich wusste, dass es keinen Grund gab, ihm zu misstrauen, krampfig auf mich aufzupassen und keiner Menschenseele erzählen zu wollen, dass er mich küsste, dass wir uns küssten und dass ich damit auch nicht wieder aufhören wollte. Ich setzte mich auf mein Bett und versuchte durchzuatmen. Halb acht. Ich musste vorher duschen, mir was anständiges anziehen und mir ein Gesicht malen. Und runterkommen.

„Treffe euch gegen halb neun am Verein. Sage Bescheid, wo ihr seid.", schrieb ich ihm kurzerhand. Das Gespräch würde warten müssen. Ich war zu drüber gerade. Das konnte so nur schiefgehen. Für einen Moment ließ ich meinen Oberkörper sinken, legte meine Stirn an meine Knie und wartete. Ich hatte Lukas Worte im Ohr: „Rege dich nicht auf." Er hatte gut reden, er wohnte nicht mehr hier. Leise stöhnend schüttelte ich den Kopf, als ich merkte, dass mein Pulsschlag sich einfach nicht beruhigen wollte. Immer, wenn ich das Gefühl hatte, dass mein Blut etwas weniger wild durch meine Adern tobte, versetzte mein Kopf mich augenblicklich zurück auf diese Terrasse und das Spiel begann von vorne. Nach wenigen Minuten gab ich auf und tat das Einzige, was mir sinnvoll und gerecht erschien. Ich holte den teuersten Rotwein meiner Eltern aus ihrem Keller, entkorkte ihn noch im Treppenhaus mit meinem Taschenmesser und trank einen ersten, großen Schluck direkt aus der Flasche, während ich meine Tür wieder aufschloss. Dann machte ich zu laut Musik an, ging duschen, sang lauthals und wütend mit, zog mir danach meine engste Jeans und das figurbetonteste Oberteil an, dass mein Schrank zu bieten hatte und schminkte mich. Pass auf dich auf. Das er sich getraut hatte, mir das zu raten, nachdem er mit meiner Mutter konspiriert hatte. Er hatte das gewusst und es ihr nicht ausgeredet. Er hatte gewusst, dass sie mit uns darüber reden wollte. Pass auf dich auf. Er musste gewusst haben, wie sehr das mich und Felix treffen würde. Ich nahm noch einen großen Schluck Wein. Die beiden konnten mich mal. Ich schlüpfte in meine Stiefeletten und betrachtete mich im Spiegel. Ging klar, ziemlich klar sogar, stellte ich überrascht fest. Ich guckte ziemlich finster, aber sonst war es echt okay. Ich drehte mich noch ein paar Mal um meine eigene Achse, nahm dann meine Lederjacke vom Haken, stopfte mir zwanzig Euro in die eine Hosentasche und meinen Perso in die andere, und stolzierte- die Weinflasche in der Hand, aus dem Haus und vom Hof. 

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2 Dinge: Kim wird sicher kein Schauspieler. Impulskontrolle ist eher so manchmal ihr Ding. 

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