Ich rief nicht an- weder am Freitag, noch am Samstag. Genauso wenig meldete er sich. Nichts von ihm zu hören, während bei ihm so viel passierte, über das wir sonst gesprochen hätten, machte mir zunehmend Angst. Am Samstagabend hielt ich es nicht mehr aus, schnappte mir Benthes Auto und fuhr zum Strand, wo ich einfach nur auf einer alten Picknickdecke saß und aufs Wasser guckte. Wieder und wieder ging ich im Kopf durch, was passiert war und fragte mich, ob ich gerade bei ihm wäre, wenn ich einfach auf Marieke gehört und ihm nach seinem Ritt in Mannheim nicht direkt hinterhertelefoniert hätte. Wahrscheinlich wäre ich das. Oder hätten wir den gleichen Krach und die gleichen verletzten Gefühle gehabt, wenn ich im Nachhinein erfahren hätte, dass er sich mit Jenny getroffen hätte? Er hätte es mir nicht verraten- und so sehr ich bereute, was ich dann tatsächlich zu ihm gesagt hatte, so falsch fand ich es doch, dass er mir das Treffen hatte verheimlichen wollen. War es also fair, dass er mir quasi den ganzen Streit in die Schuhe schob? Und spielte es eine Rolle, ob es fair war?
Ich fror längst, als der Strand sich immer weiter leerte und ich immer noch reglos auf meiner Decke kauerte, während die Wellen in einiger Entfernung am Strand leckten, bevor sie sich zurückzogen, nur um dann wieder ein Stück Sand zu erobern. Es war nicht nur das Salz in der abgekühlten Luft, das in meinen Lungen fast brannte. Vielmehr war es die Erinnerung an ihn und mich bei dieser Wattwanderung. Ich war fast durchgedreht vor Glück und Verliebtheit damals und wenn ich mir die Bilder in Erinnerung rief, dann drehte ich immer noch fast durch- allerdings vor Sehnsucht. Er und ich hatten eigentlich schon seit einer ganzen Weile auf einem Vulkan getanzt. Dieser Kuss in Berlin, der keiner gewesen war; seine Eifersucht, meine Eifersucht; das Misstrauen, das mich dazu getrieben hatte, diesen dämlichen Chatverlauf zu lesen; und dann diese Entscheidung von mir, nach Renesse zu gehen, die ich nur ohne ihn getroffen hatte, weil er um sich geschlagen hatte wie ein verletztes Tier und mich dabei getroffen hatte. Jetzt war uns- oder eher mir- dieser Wust an Ereignissen um die Ohren geflogen. Gab es ein Zurück zum Davor? Und was brauchte es dafür? Er hatte gesagt, dass ich darüber nachdenken solle, was ich für eine Freundin sein wolle. Eine weniger eifersüchtige, eine, die nicht gezielt auf offene Wunden zielte. Das wollte und das musste ich sein. Und sonst? Reichte das? Hatte ich ihm nicht am Telefon deutlich gesagt, dass ich das längst verstanden hatte? Hatte ich nicht gesagt, dass ich nicht nochmal nach seiner ausgestreckten Hand schlagen würde? Ich schlang gerade fröstelnd meine Arme um meine Knie und zog die Schultern hoch, um dem auffrischenden Wind weniger Angriffsfläche zu geben, als ich mein Handy in der Jackentasche vibrieren spürte. Einen kurzen, sehr kurzen Augenblick hatte ich die Hoffnung, dass es Paul sein würde, der mich anrief, um mir zu sagen, ich solle in den Zug steigen und zu ihm kommen, aber es war nicht Paul.
„Wenn du nicht schon gestraft genug wärst, würde ich an dir Blutabnehmen üben. Und ich steche grundsätzlich mehrfach daneben, Kim-Marie!"
„Du kannst mein Blut haben.", murmelte ich und hatte das Gefühl, die Bleiplatte auf meiner Brust hätte gerade wenigstens einen Sprung bekommen. Sie wusste Bescheid- ich musste nichts mehr sagen und erklären. Und so deutlich sie gerade Position auf Pauls Seite bezog- sie rief mich an. Ich schwor mir, ihr dafür irgendwann ein Denkmal zu bauen.
„Wo ertrinkst du in deinem Selbstmitleid?", fragte sie ohne Umschweife.
„Am Strand. Weit weg von ihm, wie er es will. Wieso?"
„Weil Prometheus und ich im Bus zu dir sitzen."
„Prometheus?", fragte ich ratlos und kniff die Augen zusammen, als eine kräftige Windböe Sand aufwirbelte.
„Mein Anatomie-Lehrbuch, kein adliger Herr Medizinstudent älteren Semesters. Jedenfalls..."
„Wo bist du denn schon?", fragte ich irritiert. Man brauchte fast zehn Stunden von Renesse nach Berlin. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie sich in den Zug gesetzt und dabei riskiert hatte, dass ich nicht da war.
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...