Part 105

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Es war ein langes Gespräch geworden, weil Pia kaum mitbekommen hatte, dass ich seit Anfang des Jahres immer unsicherer geworden war. Sie schaute irgendwann im Internet in die Ergebnislisten, weil sie mir nicht glauben wollte, dass es schon eine ganze Weile nicht lief. „Na ja....", sagte sie und klickte sich so durch. „Das ist kein gutes Jahr für dich, okay, aber du bist immer noch regelmäßig in der Platzierung drin. So schlimm ist es nun auch nicht. Deswegen kannst du nicht aufhören."

„Es geht aber nicht nur um die Ergebnisse.", sagte ich und erzählte ihr von dem Vorfall mit dem Fotografen und wie sehr mich das aus der Bahn geworfen hatte. „Ich habe ein Kopfproblem- und das ist so massiv, dass ich sogar beim Vereinsturnier richtig nervös geworden bin. Verstehst du das? Ich bin beim Vereinsturnier richtig nervös geworden und das vorm M-Springen." Ich hatte den letzten Bissen meines Burgers in den Mund gesteckt, mich zurückgelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt.

„Gegen Kopfprobleme kann man was machen, das weißt du, oder?" Sie trank einen großen Schluck Wasser und sah mich herausfordernd an. „Wenn du aufhörst, weil dir deine Nerven ein bisschen flattern, dann bist du nicht die, die ich schon lange kenne. Du hast das immer so sehr gewollt."

„Vielleicht will ich es nicht genug.", sagte ich und erwiderte ihren Blick. „Im Ernst. Wenn man ganz oben mitreiten will, dann muss man es richtig wollen und im Moment bin ich mir nicht sicher, ob ich es dafür genug will."

Pia legte ihren Kopf schief und schob ihr Kinn vor und ihr war anzusehen, dass sie nicht so recht glauben konnte, was sie hörte. Ich seufzte, während ich mich unter ihrem Blick fühlte wie im Verhör.

„Du hast von dem Bild von meiner Mama angefangen.", sagte ich dann und verhakte meiner Finger ineinander. „Erinnerst du dich, wie sie darauf guckt?"

„So, dass ich ihr als Streckenposten aus dem Weg gesprungen wäre." Pia grinste. „Nichts für ungut, aber so guckt sie heute noch, wenn du reitest."

Langsam nickte ich. „Sie will das genug. Mein Vater will das genug. Paul will das genug. Und ich stehe daneben und fühle mich komisch. Früher habe ich immer über die Pferde und das Training gesprochen. Heute bin ich froh, wenn der Arbeitstag vorbei ist und ich mal was anderes machen kann."

„Ist das nicht normal?" Pia lächelte ermutigend. „Du machst das jetzt immerhin den ganzen Tag und das jeden Tag. Sind deine Eltern oder Paul nicht froh, wenn sie mal über andere Dinge reden können?"

„Keine Ahnung....", erwiderte ich leise. „Wahrscheinlich, aber Paul sagt, er kommt morgens auf den Springplatz und kann sich keinen schöneren Arbeitsplatz vorstellen. Ich denke so nicht."

„Dir steckt München in den Knochen, oder?"

„Ja...", sagte ich leise. „Auf jeden Fall. Ich weiß aber nicht, ob man das zurückdrehen kann und..." Ich hielt inne, als ich spürte, dass mir die richtigen Worte auf der Zunge lagen, die, die ich seit Monaten suchte und die ich nicht gefunden hatte. Endlich bekam ich zu fassen, was so lange diffus in meinem Hinterkopf herumgewirbelt war. „..vielleicht will ich es nicht mehr zurückdrehen. Vielleicht hat es mich verändert und vielleicht sind mir Freunde und Familie jetzt wichtiger als vorher. Vielleicht möchte ich einfach lieber am Wochenende mal zu dir fahren und nicht von Donnerstag bis Sonntag unterwegs sein. Und vielleicht will ich auch wissen, wer und wie ich sein kann, wenn man nicht von mir erwartet, nur die Tochter meiner Eltern zu sein." Erleichtert darüber, dass die Erkenntnis nicht direkt wieder zerrann, sah ich Pia erwartungsvoll an. „Weißt du, wie ich das meine?"

Sie nickte langsam und ließ sich mit geschlossenen Augen langsam zurücksinken. „Erwartungen sind anstrengend. Meine Oma erwartet bis heute, dass ich kaputt bin- oder zumindest noch kaputt gehe. Ich versuche immer, sie und alle anderen zu widerlegen..." Sie schniefte leise und schüttelte den Kopf. „Das ist manchmal furchtbar anstrengend. Nicht, weil ich eigentlich doch kaputt bin, sondern, weil ich so demonstrativ nicht-kaputt sein muss." Sie blinzelte mich an und sah mit einem Mal müde und fünf Jahre älter aus. „Wahrscheinlich bin ich genauso nicht-kaputt, wie du gerne reitest. Wenn's nur nicht so scheiße anstrengend wäre, wäre es der Kracher."

„Willst du wirklich Medizin studieren?", fragte ich und zog die Knie fest an den Körper. Medizin studieren- das passte zu dem Bild, dass ich von Pia hatte, seit wir wieder Kontakt hatten. Unverwüstlich, stark, fürsorglich, wirklich schlau, lustig, ein bisschen scharfzüngig. Viktor passte nicht in dieses Bild, die Unterhaltung von ihr und Paul neulich nachts genauso wenig. „Oder ist das ein Teil vom nicht-kaputt sein?"

„Ich will das.", sagte sie und ihre Mundwinkel hoben sich. Eine dicke Strähne ihres braunen Haares fiel ihr quer übers Gesicht und sie pustete sie weg. „Sie will mich nicht gehen lassen.", sagte sie dann. „Meine Oma will nicht, dass ich gehe."

„Warum nicht?"

„Weil sie alt und ängstlich ist. Ich liebe sie, aber ich kann so nicht werden. Meine Mama...." Ihr Blick wechselte innerhalb von einem Wimpernschlag von unendlich verletzlich zu steinhart und sie richtete sich energisch auf. „Lass uns abspülen.", sagte sie in dem geschäftsmäßigen Ton, mit dem sie alles, inklusive Paul und mir, organisierte. Sie hatte wieder demonstrativ alles im Griff.

„Pia...", sagte ich und schickte ein Stoßgebet Richtung Himmel, dass ich jetzt keine Lawine lostrat. „Ich weiß nicht, was deine Mutter gewollt hätte. Meine Mutter will, dass ich glücklich bin, sogar, wenn das heißt, dass ich nochmal neu anfange. Du weißt, was das für sie heißt." Tatsächlich musste Pia kurz auflachen, während sie Spülwasser einließ. „Ich glaube, das würde deine Mutter auch wollen. Das du glücklich bist, egal wie."

„Das weiß ich." Sie klang gefasst und zuversichtlich. „Und ich glaube dran, dass wir das beide hinkriegen." Sie griff nach einem Geschirrhandtuch, warf es mir zu und streckte mir die Zunge raus. „Du bist sowieso auf dem besten Weg."

„Weil?", fragte ich und spürte, wie ich rot anlief.

„Genau deswegen, Kim-Marie." Lächelnd tauchte Pia unsere Teller ins Wasser. „Pauli tut dir abartig gut. Du bist endlich diesen verschüchterten Blick wieder los, du hast bestimmt fünf Kilo zugelegt, die dir richtig gut stehen und du hast hübsche Unterwäsche an, ohne dass dein Kerl in Reichweite ist." Sie klimperte mit den Wimpern. „Weil wir es uns endlich wert sind oder so?"

Anders als sonst ließ ich mir widerstandslos einen Kuss auf die Wange drücken, nuschelte dabei „Sind nur drei Kilo, fünf wäre krass." und ließ meinen Kopf gegen ihre Schulter sinken.




 Während wir spülten, hingen wir beide unseren Gedanken nach. Das Gespräch hatte ganz schön an meinem Akku gezogen und gleichzeitig fühlte ich mich viel klarer und freier. Wir machten uns danach noch einen richtigen Mädels-Abend mit Gesichtsmasken und Nagellack und irgendwann war ich so entspannt, dass ich Pia bei quietschsüßem, alkoholfreien Erdbeersekt alle Details zu Paul und mir verriet, nach denen sie fragte. Sie war entspannt, sie lachte und zum ersten Mal war ich mir sicher, dass keine verdeckte Wehmut mitschwang. Später am Abend, als wir beide schon mit geschlossenen Augen unter unseren Decken lagen, erklärte sich weshalb.

„Ich habe Viktor gesagt, dass er sich nie wieder melden soll.", sagte sie völlig unvermittelt und ich hob überrascht den Kopf. In der Dunkelheit konnte ich sie trotzdem kaum sehen.

„Wann?", fragte ich gespannt.

„Fünf Minuten, nachdem ich den Zulassungsbescheid in der Hand hatte." An ihrer Stimme konnte ich hören, wie zufrieden sie damit war. „Und dreißig Sekunden später habe ich ihn blockiert, damit mich nicht interessieren muss, was er dazu sagt."

„Und das erzählst du erst jetzt.", sagte ich, ließ mich zufrieden wieder auf die Luftmatratze sinken und streckte mich wohlig. „Darauf hätten wir anstoßen sollen." 

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Weil beste Freundinnen das größte Geschenk sind, ist der Teil meinen beiden besten gewidmet. Nicht, dass sie es je lesen dürften, aber großartig sind sie trotzdem 🥰

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