Part 111

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Es ist mörderisch heiß und eine Schweißperle läuft von meiner Stirn herunter und meine Schläfe entlang. Ich sitze auf Donni, die sich wach umschaut und darauf wartet, dass es losgeht. Sie kennt ihren Job und weiß, was zu tun ist. So wie ich. So wie sie fühle ich mich fast elektrisch aufgeladen, unter Spannung, aufmerksam und klar. Ich sehe mich um, sehe die volle Tribüne, die Anzeigetafel, auf der mein Name angezeigt wird und die Zeit bis zum Start langsam herunterläuft. Automatisiert grüße ich, lasse noch einmal zur Orientierung meinen Blick über den großen Sandplatz schweifen und galoppiere dann an, spüre, wie Donni fleißig durchspringt und auf dem Weg zum ersten Sprung anzieht. Sie springt wie immer- vorsichtig, athletisch, durch den Körper und neben der Anspannung, die alles außer dem Weg zum nächsten Sprung verschwimmen lässt, spüre ich noch etwas anderes: Spaß! Es ist ein einzigartiges Gefühl, wie Donni für mich kämpft, wie sie mir zuhört und wie sie abhebt. Es ist wie fliegen- nur unvergleichlich viel besser, weil ich wirklich gut darin bin und weil ich ein wirklich gutes Pferd reite. Während wir einen Sprung nach dem nächsten hinter uns bringen, hinterfrage ich nicht einmal, was ich tue. Stattdessen folge ich dem Plan, den ich vorher gemacht habe und der perfekt aufgeht. Auch als wir auf die Schlusslinie abwenden ist der Plan gut. Donni springt die Zweifache- überbautes Wasser inbegriffen- als ob es nichts wäre und ich lasse sie auf den letzten Sprung hin durchgaloppieren, um den Fluss gar nicht unnötig zu stören. Noch im Absprung lässt die Anspannung nach, ich sehe das Publikum, sehe meine Familie am Einritt stehen, meine Mutter, die in dem Moment, als sie realisiert, dass die Stange liegen bleiben wird, euphorisch meinem Vater in die Arme springt und lache selbst befreit, als Donni nach der Landung einen Bocksprung macht, wie um zu unterstreichen, dass sie eben weiß, wie es geht. Es ist, als hätte jemand den Vorhang zur Welt hochgezogen, während ich am langen Zügel mit Donni Richtung Ausgang galoppiere. Ich höre den anerkennenden Applaus, ich höre Donni schnauben, meinen eigenen Atem, das Blut, dass durch meine Adern pumpt. Ich bin hellwach, so wie von zu viel Koffein, lebendig und spüre, wie der Druck der letzten Stunden mit einem Mal vorbei ist. Als ich durchpariere und einen prüfenden Blick auf die Anzeigetafel werfe, weiß ich, dass ich wohl gerade deutsche Meisterin geworden bin.


Donni steht schon auf dem dunkelroten Transporter, der Ulrich Hasse gehört. Meine Kollegen Nathalie und Karl steigen gerade ein, aber meine Mutter zieht mich in eine letzte Umarmung. „Ich bin so stolz auf dich.", sagt sie nochmal und ich ziehe den Kopf weg, als sie mir einen Kuss auf die Wange drücken will. So viel Nähe ist mir eigentlich unangenehm- und ihr erst recht. Sie muss von meinem Erfolg berauschter sein als ich. Vor allem aber will ich das hier nicht, nicht vor dem Nathalie und schon gar nicht vor Karl. „Lass es.", sage ich deshalb ungehalten und reiße mich aus der Umarmung los, obwohl ein Teil von mir- und zwar der, der unter keinen Umständen in den dunkelroten Transporter hinter mir steigen und zurück nach München fahren will- am liebsten ihre Hand greifen und „Nehmt mich mit nach Hause" sagen möchte. Denn da will ich hin. Ich will mit meinen Eltern und meinem nervigen kleinen Bruder in ihr Auto steigen und nach Hause fahren. „Wir sehen uns spätestens Weihnachten.", höre ich meinen Vater sagen, der lächelnd auf die zweite Abschiedsumarmung verzichtet, weil er merkt, dass ich darauf keinen Nerv habe. Ich liebe ihn dafür mehr als er ahnt. Trotzdem muss ich schlucken. Weihnachten. Das ist ewig hin. Das sind drei Monate. Aber ich nicke. „Bis Weihnachten. Grüßt Paul von mir." Damit drehe ich mich um und steige ohne einen weiteren Blick auf meine Familie in den Transporter, schlage die Tür hinter mir zu und sehe in Nathalies angenervtes Gesicht. „Sorry.", murmele ich und Karl schnaubt abfällig, während er den Motor anlässt.

„Bei so viel Familienglück wird einem ja schlecht.", ätzt Nathalie.

Ich schweige, weil mir kein Konter einfällt und weil ich ihrer Spitzen und Gehässigkeiten so müde bin, dass ich keine Kraft mehr mobilisieren kann, um ihr zu sagen, dass sie die Schnauze halten soll. Das wird sie eh nicht.

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