Wie automatisch putzte ich Lolo über und kämpfte dabei immer wieder die aufsteigenden Tränen wieder. Die Vorwürfe, die Paul mir an den Kopf geworfen hatte, hallten noch nach in meinen Ohren und ich konnte ihre Ungerechtigkeit fast auf der Zunge schmecken. Dieser Kuss hatte absolut nichts mit Bestätigung zu tun gehabt. Ich hätte ihm nie von München und Thomas erzählen dürfen, schon gar nicht betrunken. Und schon gar nicht hätte er danach davon anfangen sollen, ob es nun das sei, was zwischen uns stand. Was er gesagt hatte, war ein bisschen zu perfekt gewesen, was er gesagt hatte, hatte diese blöde Frage nach dem „Was wenn" aufgeworfen und zwischen uns gestellt- und ich war voll darüber gestolpert. Ich warf einen Blick auf die Uhr, stellte fest, dass der Parcours zur Besichtigung freigegeben war, legte das Putzzeug weg und machte mich wortlos auf den Weg.
Bei der Parcoursbesichtigung versuchte ich mich zusammenzureißen, versuchte mir einen Plan zu machen, aber spätestens als Paul auftauchte und schweigend neben mir die Zweifache in Augenschein nahm, ohne mich eines Blickes zu würdigen, war es damit vorbei. Auch als er kommentarlos weiterging und sich die nächste Distanz ansah, kam meine Konzentration nicht zurück. Stattdessen hatte ich immer wieder Szenen vom Vorabend im Kopf. Seine Hand an meiner Taille, seine Lippen auf meinen. Willst du mich eigentlich verarschen. Am Ende hatte ich das Gefühl, den Parcours kaum gesehen zu haben und es wurde nicht besser, egal, wie oft ich ihn mir ansah. Paul war schon längst wieder Richtung Stallzelt verschwunden, als ich den Platz verließ. Ich sah, wie Pia auf mich zukam, einen ratlosen Ausdruck auf dem Gesicht.
„Was zur Hölle habt ihr gestern Abend angestellt?", fragte sie mich, kaum dass sie mich erreicht hatte. „Ihr seht aus, als ob..."
„Nicht jetzt, Pia.", würgte ich sie ab. „Ich muss reiten- ernsthaft." Damit ließ ich sie stehen. Zum einen, weil ich wirklich reiten musste, weil es mein Job war, dass anständig zu machen und weil ich damit im Moment schon überfordert war. Zum anderen, weil ich keinen Schimmer hatte, wie ich das erklären sollte- schon gar nicht ohne Tränen und mittleren Nervenzusammenbruch.
Auch beim Abreiten und selbst auf dem Weg in den Parcours ging mir nicht aus dem Kopf, was passiert war. Es war sicher nicht hilfreich gewesen, dass kurz bevor ich den Abreiteplatz Richtung Einritt verlassen hatte, Paul angefangen hatte, Fia aufzuwärmen. Jenny an der Umzäunung, die sein Jacket hielt, hatte dem Ganzen die Krone aufgesetzt. Dann kannst du ja einfach wieder Jenny vögeln. Das hatte ich ernsthaft gesagt.
Meine Mutter, die neben mir herlief, war ungewöhnlich schweigsam. Sie gab mir nur ein „Alles wie gestern" mit auf den Weg, dann stand ich auch schon mitten im Parcours.
Müde saß ich am späten Nachmittag auf der Teilnehmertribüne und tat so, als würde ich eine Youngster-Prüfung verfolgen. Mein Springen war nicht so schlecht gelaufen, wie man hätte annehmen können. Das einzig Gute an dem Drama zwischen Paul und mir war wohl, dass ich keine Zeit gehabt hatte, nervös zu werden. Ich war irgendwie geritten, mit den Gedanken überall, aber nicht zwischen den Sprüngen. Irgendwie hatte ich es nicht verbockt und Lolo hatte mitgespielt. Am Ende stand ein Flüchtigkeitsfehler zu Buche und konnte nicht einmal sagen, ob der nun auf meine oder auf Lolos Kappe ging. Paul hatte wenig später wie schon am Vortag eine blitzsaubere Nullrunde hingelegt, dann aber aufs Stechen verzichtet, um Fia für den Sonntag zu schonen. Er war geritten, als wäre nichts passiert, als hätte in seinem Kopf nichts anderes als dieser dämliche Parcours Platz gehabt. Pia war danach mit ihm und Jenny losgezogen, um etwas zu Essen zu organisieren und ich hatte mich verzogen. Mir war nicht nach Essen- und schon gar nicht in der Gesellschaft.
„Na?", hörte ich eine Stimme hinter mir.
„Was ist, Ma?", fragte ich zurück ohne mich Umzudrehen und merkte selbst, wie resigniert ich klang.
„Ich habe was für dich."
Widerwillig wandte ich mich ihr doch zu. Sie streckte mir eine Flasche Wasser und einen Müsliriegel entgegen. „Nicht unterzuckern, verdursten oder verhungern.", sagte sie und lächelte vorsichtig.
„Danke." Seufzend nahm ich ihr beides ab.
„Kann ich was für dich tun?" , fragte sie und legte ihre Hand auf meine Schulter.
Langsam schüttelte ich den Kopf, riss die Verpackung vom Müsliriegel auf und biss hinein. „Schokoriegel reicht.", antwortete ich und merkte erst während ich kaute, wie wahnsinnig hungrig ich eigentlich war. Ich hatte seit dem Vorabend nichts mehr gegessen. Wir schwiegen beide, während ich den Rest aufaß und dann einen vorsichtigen Blick zu ihr riskierte. „Du hast nicht noch einen, oder?"
„Doch." Sie schmunzelte. „Schoko oder Banane?"
„Beide?"
Sie gab mir die Schokovariante und behielt den Bananenriegel für sich. „Du bist gut geritten heute.", sagte sie.
„Wenn du was willst, musst du mir vorher kein Kompliment machen.", gab ich zurück und schaute wieder nach vorne.
Sie seufzte leise. „Paul fährt morgen nicht mit uns nach Hause."
Das saß. Damit hatte er unseren Streit so richtig schön meiner Mutter vor die Füße getragen. Bedächtig kaute ich weiter auf meinem Schokoriegel herum. „Wieso nicht?", fragte ich und bemühte mich um einen möglichst unbeteiligten Tonfall.
„Das weiß ich nicht." Ich hörte das Fragezeichen am Ende ihres Satzes, ganz ohne, dass sie ihre Stimme hob.
„Tja, ich auch nicht." Nur eine halbe Lüge. „Wie kommt er zurück?"
„Er sagte, dass Pia ihn wohl mitnimmt."
Das wäre ein ganz schöner Umweg für sie, selbst, wenn sie bei ihrem Vater Station machen würde. „Schön für ihn." Ich zuckte mit den Schultern und tat so, als ginge mich das nichts an.
„Wenn du..."
„Wenn du darüber reden willst", äffte ich sie nach und merkte selbst, wie ich ihr ebenso an die Kehle gehen wollte wie schon Paul am Vormittag. „Will ich nicht. Lass es."
Sie holte tief Luft und beugte sich ein bisschen zu mir herunter. „Kim, ", setzte sie leise an und es lag eine unverhohlene Drohung in der Art, wie sie meinen Namen betonte. „pass auf! Überspanne den Bogen nicht."
Ich musste mich zusammenreißen, um mich nicht ruckartig umzudrehen und ihr zu sagen, sie selbst solle den Bogen nicht überspannen und sich nicht in Dinge einmischen, die sie nichts angingen- wobei meine Wortwahl sicher anders ausgefallen wäre. „Was mache ich denn?", fragte ich stattdessen mit einem ätzenden Unterton, der mir selbst fast auf die Nerven ging.
„Du giftest mich seit Tagen bei jeder Gelegenheit an. Ich habe es so stehenlassen, weil ich weiß, dass du gerade irgendwas mit dir selbst, Pia oder Paul oder sonst wem ausmachst, aber irgendwann reicht's. Klar?"
„Dann lass mich endlich in Ruhe mit deinem besorgten Getue.", brachte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und bemühte mich nicht weniger als sie, meine Stimme leise und ruhig zu halten.
„Ich mache mir Sorgen."
„Und wann hast du beschlossen, dir Sorgen um mich zu machen? Seit ich mies reite?" Ich drehte mich um und zog meine Augenbrauen hoch. „So viele Gedanken darum, wie es mir geht, hast du dir doch sonst auch nicht gemacht." Das war gemein und ich wusste es- aber es verfehlte seine Wirkung nicht. Sie war still und ich wusste, dass ich einen Nerv getroffen hatte. „Wusste ich doch.", schob ich kühl hinterher, stand auf und ging.
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Polterabend- wer kann innerhalb von 24 h mehr Porzellan zerschlagen als Kim?
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...