Part 177

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Es goss in Strömen und der Wind drückte die kalte Nässe durch die Klamotten, während ich mit meinem Vater am Bahnsteig stand und auf den verspäteten Zug wartete. Er ließ mich nicht gern fahren, das hatte er ehrlich zugegeben und sogar angeboten, mich mit dem Auto nach Renesse zu bringen. Ich hatte das abgelehnt, weil es nichts brachte, weil es nichts besser machte. Nach Renesse zu fahren war nicht das Problem, ich war sogar ehrlich froh darüber, Abstand zwischen mich und Paul und all die anderen zu bekommen, die wussten, was passiert war. Zwei Tage mit wahlweise mitleidigen Blicken meiner Familie oder hämischen Blicken von Simon und Nika hatten mir gezeigt, dass jeder außer mir eine klare Meinung zu dem hatte, was passiert war.

„Ich bringe dich wirklich.", setzte mein Vater ein letztes Mal zu einem Versuch an, mich doch selbst zu fahren. „Bei dem Wetter fällt unter Garantie ein Baum auf die Oberleitung und du strandest unterwegs." Er nickte pessimistisch in Richtung der Anzeigetafel. „Wenn der überhaupt noch kommt."

„Papa...." Ich seufzte und machte etwas, dass ich in der Öffentlichkeit eigentlich vermied. Ich umarmte ihn fest und legte mein Gesicht an seiner Schulter ab. „Ich komme zurecht."

„Du rufst an, wenn etwas ist, okay?", flüsterte er und strich mir über die Haare. „Ich hole dich."

„Ich weiß."

„Und wenn Paul einmal falsch atmet, dann...."

Dann wäre eine Kündigung das Angenehmste, was Paul passieren konnte. Mein Vater würde ihm nie verzeihen, was passiert war. Selbst, wenn ich mich dazu entschließen würde: Paul würde niemals wieder seine Füße unter unseren Esstisch strecken. Wahrscheinlich würde er niemals wieder die Wohnung betreten dürfen. Da machte ich mir keine Illusionen. Ich fragte mich, ob Paul ahnte, wie sehr er das Verhältnis von meinem Vater und mir verändert hatte, indem er Jenny geküsst hatte. Es war, als fühle mein Vater persönlich sich verantwortlich dafür, mich nicht vor dem beschützt zu haben, was passiert war. München, Thomas, Paul. Für ihn schien sich das anzufühlen wie ein einziges Versagen seinerseits. Jedenfalls hätte er mich- wenn er gekonnt hätte- in Watte eingepackt. Er hätte mich zuhause behalten, Paul vom Hof gejagt und würde in Zukunft wahrscheinlich jeden beschatten lassen, der mir nahe kam. Es würde anstrengend werden, wenn ich in einigen Wochen zurückkäme. Daran hatte ich keinen Zweifel. „Ich weiß, Papa. Dann wirfst du ihn raus." Ich atmete tief aus und ließ mich schwerer gegen ihn sinken. „Kannst du machen."

Seine Arme schlossen sich noch ein bisschen fester um mich und ich schloss für einen Moment die Augen, weil ich mir kurz wünschte, wieder fünf Jahre alt und mit dem Vertrauen ausgerüstet zu sein, dass meine Eltern schon jedes Problem lösen würden. Das konnten sie nicht. Egal, wie viel mehr mein Vater es in Zukunft auch probieren würde- ich musste meine Probleme alleine lösen. Ich musste meine Entscheidung, ob ich Paul je wieder vertrauen konnte und wollte für mich alleine treffen. Als der Zug einfuhr, ließ er mich schweren Herzens los, reichte mir meine Tasche, die er sich über seine Schulter gehangen hatte und strich mir flüchtig über die Wange. „Rufe an, Kimmi. Und passe auf dich auf."

„Mache ich." Mit einem müden Lächeln nahm ich die Tasche entgegen. „Passe auf Mama und Felix auf, ja?"

Er musste lachen und schüttelte den Kopf. „Das ist mein eigentlicher Job, Kim. Die Sache mit den Pferden ist bloß Beiwerk."





In Renesse behielt ich den eigentlichen Grund für die Eiszeit zwischen Paul und mir für mich. Marieke erzählte ich, dass er und ich mit der Fernbeziehung nicht gut klarkamen und beschlossen hatten, unsere Beziehung auf Eis zu legen, bis ich zurück war. Sie verstand die Begründung offensichtlich nicht und fragte mich mehr als einmal in sarkastischem Tonfall, wie man den nun Gefühle pausieren ließe. Genau darauf hätte ich gern eine Antwort gehabt. Tagsüber kam ich klar: ich arbeitete, ritt, kochte und hielt meinen Kopf beschäftigt. Ich ging an heißen Sommertagen nicht nur mit Marieke, sondern auch mit zwei anderen Freundinnen, die ich beim Sport kennengelernt hatte, am Strand schwimmen. Pip und ich wurden noch unzertrennlicher und mit Highlight ritt ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Inter I durch. Benthe las die Aufgabe vor, Marieke filmte und als ich die Datei meinem Vater schickte, war ich ehrlich stolz. Highlight sei Dank hatte ich wie eine echte Dressurreiterin ausgesehen und die Flut an sektkorkenknallenden Smileys mit Herzchen in den Augen spiegelte echte Begeisterung wieder. Abends allerdings schlug entweder die Wut oder die Sehnsucht zu. Einmal bekam ich eine vage Vorstellung davon, warum Menschen wegen Rachegefühlen fremdgingen. Ich war mit Marieke und den Mädels unterwegs, und als wir den Abend in einer Bar ausklingen ließen, stellte sich ein großer, blonder und sehr freundlicher Niederländer neben mich, der mich charmant den ganzen Abend danach ausfragte, wer ich sei und was ich in Renesse machte. Seine selbstsichere, angenehme Art, sein verschmitztes Lächeln und seine blauen Augen erinnerten mich auf eine gute Art an Paul und ich spürte für einen Moment die Versuchung, das Kopfzerbrechen an dieser Stelle zu beenden und Fakten zu schaffen. Marieke wisperte mir passenderweise zwischendurch ein „Wie sehr pausiert deine Beziehung denn nun?" zu und grinste dabei ziemlich unanständig. Trotzdem- als die anderen ihre Jacken anzogen, bezahlte ich entgegen seines Protests meine Getränke selbst und schlug sein Angebot, doch noch mit ihm weiterzuziehen, freundlich aber bestimmt aus. Ich haderte ungefähr fünf Minuten mit der Entscheidung, dann war ich froh darüber, Gleiches nicht mit Gleichem vergolten zu haben. Wenn ich eins aus dem Gespräch auf Pauls neuer Terrasse mitgenommen hatte, dann das ich niemandem dieses Gefühl geben wollte, dass ich gehabt hatte, als er ausgesprochen hatte, dass er Scheiße gebaut habe.

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