Ich hatte meine Tasche in meinem alten Zimmer abgestellt, meine Zähne geputzt und ein großes Glas Wasser heruntergestürzt. Felix war noch in der Schule, mein Vater gab auswärts Unterricht und meine Mutter, die mit mir Kaffee trinken wollte, wimmelte ich mit schlechtem Gewissen ab. So viel Angst wie ich vor dem Gespräch mit Paul auch hatte, wollte ich es auch mindestens genauso dringend hinter mich bringen. Also ging ich ohne Umwege nach unten, klopfte bei ihm und wartete. Als er nicht öffnete, war ich nicht unbedingt überrascht. Es war gerade erst eins, es war ein schöner Sommertag, es wäre fast ein bisschen ungewöhnlich gewesen, wenn Paul den Tag in seiner Wohnung verschlief. Ich ging nach unten, suchte im Stall und in den Hallen, aber schließlich fand ich Fia auf einer der hinteren Weiden. Wenn sie frei hatte, dann nutzte er den Urlaub, den er vor einer gefühlten Ewigkeit genommen hatte, als wir unsere Wochenenden geplant hatten. So viel zum Thema, er würde es nicht schaffen. Obwohl es mir widerstrebte, zog ich mein Handy aus meiner Hosentasche und versuchte, ihn anzurufen. Er wusste bisher nicht einmal, dass ich zuhause war. Irgendwie hatte ich gehofft, ihm einfach gegenüberzustehen und nicht erst ein Treffen arrangieren zu müssen. Nach dem zweiten erfolglosen Versuch, fluchte ich leise und dachte nach. Ich könnte darauf warten, dass er nach Hause kam. Das war aber, nach Wochen des Wartens, einfach keine Option mehr für mich. Ich war nicht hergefahren, um noch länger auf ihn zu warten. Wo könnte er also sein? Bei seinen Eltern? Bei Samuel? Am See? Bei Malte?
Ich tat, was mir am erfolgversprechendsten erschien, schnappte mir mein altes Fahrrad und fuhr zum See. Ich scannte die Wiese und das Ufer ab, fand ihn aber nirgends. Als mein Blick an der Stelle hängen blieb, an der wir vor einem knappen Jahr gestanden hatten, an der ich ihn zum ersten Mal so richtig geküsst hatte, wurde mir fast übel. Die Anspannung, das heftige Kribbeln in meinem Magen und ein sich gleichzeitig vor Angst zusammenziehender Brustkorb vertrugen sich nicht gut miteinander. Ich hatte ihm diesen verdammten Picknickkorb zu Weihnachten geschenkt, weil ich ihm damit einen weiteren, perfekten Sommer hatte versprechen wollen. Das hatte ja prima geklappt.
Auch als ich meinen Blick über die abgestellten Fahrräder schweifen ließ, konnte ich seins nicht ausmachen. Wieder rief ich ihn an und wieder hob er nicht ab. Verdammt. Vielleicht hätte ich doch im Vorfeld mit ihm ein Krisengespräch ansetzen müssen. Frei nach dem Motto „Hallo Paul, am Freitag um vierzehn Uhr möchte ich mit dir über die Zukunft unserer Beziehung sprechen. Trage das in deinen Kalender ein und blocke dir ein zweistündiges Zeitfenster." Das hätte sich angefühlt wie eine Verabredung zum Schlussmachen- und das wollte ich nicht. In meiner Ratlosigkeit wählte ich die einzige Nummer, die mir in dem Moment erfolgsversprechend erschien und ich schluckte die Angst davor herunter, mich als die Freundin zu enttarnen, die ihren Freund weder erreichte noch ihn fand.
„Carstens."
„Hallo", sagte ich aufgeregt, als Pauls Mutter tatsächlich ans Telefon ging. „Ich...hier ist Kim."
„Kim, wie schön dich zu hören! Wie geht es dir?", begrüßte sie mich freundlich.
„Gut, ich...Ich bin zuhause. Das war sehr kurzfristig und ich...ich kann Paul nicht erreichen. Weißt du, wo er ist?" Mein Gesicht brannte vor Scham, weil ich keine Ahnung hatte, was sie wusste und was nicht. Wusste sie am Ende, dass er von mir nicht erreicht werden wollte? Saß er neben ihr am Mittagstisch und wedelte abwehrend mit den Händen, damit sie ihm das Telefon nicht gab? Oder wusste sie am Ende von überhaupt nichts?
„Wo Paul ist?" Sie klang ratlos. „Ich weiß nicht. Vielleicht in seiner Wohnung. Er und Samuel wollten mit den Renovierungsarbeiten weitermachen, wenn ich das richtig im Kopf habe. Warst du da schon?"
In seiner Wohnung. Immerhin wusste sie nicht, dass ich nicht wusste....und so weiter.
„Ach, die neue Wohnung.", erwiderte ich mit viel höherer Stimme als sonst. Ich fragte sie nach der Adresse und sie fragte, wann ich denn mit Paul zum Kaffee vorbeikommen würde. Ob am Samstag oder erst am Sonntag; oder ob ich am Sonntag schon zu früh zurückfahren müsse.
„Ich weiß nicht.", stammelte ich hilflos. „Ich frage Paul, ja? Der sagt dann Bescheid, wann wir kommen, ja?" Immerhin wusste ich nicht einmal, ob wir kommen würden.
Ich radelte zehn Minuten Richtung Ortskern, bog kurz vor der Pizzeria in ein Wohngebiet ab und rollte langsam und mit dennoch heftig klopfendem Herzen eine Häuserreihe entlang, bis ich vor der Nummer einundzwanzig stehenblieb. Samuels Auto stand in der Einfahrt und die Haustür stand auf. Zögerlich schloss ich mein Fahrrad ab, kontrollierte ein letztes Mal, ob Paul sich zurückgemeldet hatte und ging dann auf die offene Haustür zu. Ich drückte dennoch auf das Klingelschild ohne Namen und wartete an der Türschwelle, weil ich gerade einfach nicht die Nerven dafür hatte, versehentlich ins falsche Wohnzimmer zu laufen. Sekunden später hörte ich den Türsummer und trat in den kühlen Hausflur. Intuitiv wäre ich im Flur abgebogen und die Treppe hochgelaufen, aber die Wohnungstür direkt vor mir schwang auf und Samuel- verschwitzt und mit weißen Farbsprenkeln in den Haaren stand mir gegenüber. Sein Gesichtsausdruck wechselte von übermütig-fröhlich zu überrumpelt-erschrocken zu überfordert. „Hey, Kim." Er schüttelte sich, als könnte er nicht fassen, dass ich vor der Tür stand. Die Frage, ob er ebenso wenig wusste wie seine Mutter stellte sich damit nicht mehr.
„Hi, Sam.", sagte ich und lächelte so überzeugend wie ich konnte. „Ich wollte zu Paul."
„Ja, man...ja." Er fuhr sich fahrig mit der Hand durch die Haare und sah dabei exakt so aus wie Paul, wenn er völlig ratlos war. „Komm rein." Er trat zur Seite und gab den Blick auf den Eingangsbereich der Wohnung frei. Der Flur war erstaunlich breit und hell. Ich wollte mich schon bücken und meine Schuhe an der Eingangstür abstreifen, als Samuel den Kopf schüttelte. „Lasse die bloß an. Hier ist eh alles chaotisch." Ich richtete mich wieder auf und warf im Vorbeigehen einen Blick das kleine, weiß gestrichenes Zimmer, das direkt links vom Flur abging. Hübsch. Ich presste meine Lippen aufeinander und versuchte mir nicht ansehen zu lassen, wie sehr es mich wirklich verletzte, plötzlich ein ungebetener Gast in Pauls neuem Zuhause zu sein. „Hoher Besuch, Paul!", rief Samuel, der mir vorwegging. „Ziehe dir besser was an."
„Ist Mama da?", hörte ich Paul lachend antworten. Mein Herz klopfte irrational los, weil ich dieses Lachen so gut kannte und so mochte.
„Fast.", sagte Samuel trocken, blieb am Ende des Flurs stehen und deutete nach rechts auf eine offene Tür. Zögerlich trat ich in den Türrahmen und sah in den großen, lichtdurchfluteten Raum, dessen Boden mit Malervlies abgedeckt war und der sicher mal das Schlafzimmer werden würde. Paul kniete mit dem Rücken zu mir vor einem Farbeimer in dem er herumrührte und seine Beine steckten in einem Paar Shorts, die mittlerweile an mehr Stellen weiße Farbflecken als ihre Originalfarbe hatten. Ich hätte mir tatsächlich in dem Moment gewünscht, er wäre Samuels Rat gefolgt und hätte sich sein T-Shirt, das achtlos zusammengeknäult in der Ecke lag, einfach angezogen.
„Hey.", sagte ich und schob nervös meine Hände in die Hosentaschen, weil ich nicht wusste wohin damit, während ich insgeheim hoffte, dass Samuel sich in Luft auflösen würde. Den Gedanken hatte ich noch nicht zu Ende gedacht, als Paul herumwirbelte und mich erschrocken anstarrte.
„Hey.", sagte er tonlos und wurde blass, während er zu begreifen schien, dass wirklich ich im Türrahmen seines Schlafzimmers stand.
„Schöne Wohnung.", sagte ich leise und versuchte, meine verräterisch zuckende Unterlippe zu kontrollieren. Nicht heulen.
„Ich..." Paul rührte sich noch immer nicht und sah hilfesuchend an mir vorbei, als ob er Hilfe von seinem Bruder erwartete. Der räusperte sich vernehmlich.
„Ich fahre mal in den Baumarkt. Wir brauchen noch Spachtelmasse für die Küche." Er verschwand schneller als Paul etwas einwenden konnte und ich starrte ihm schweigend nach, bis er mit einem lauten Knall die Wohnungstür zu fest und zu eilig hinter sich zuzog.
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Kim springt mehr als einmal über ihren Schatten und steht jetzt vorm Endgegner. Prognosen?
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...