Ich war nach dem Gespräch noch kurz liegengeblieben, ehe ich mich dann doch aus dem Bett gequält hatte. Ich hatte mir die Zähne geputzt, meine Haare nachlässig zusammengebunden und die bleiche Haut meines Gesichts eingecremt. Auf der Waschmaschine, in der gerade unter anderem meine Jeans und das Top vom Vorabend herumschleuderten, lagen mein Schlüssel und mein Ausweis. Immerhin hatte ich die nicht verloren. Seufzend krempelte ich die Hosenbeine der viel zu langen Trainingshose meines Vaters hoch, bevor ich das Bad verließ. Schon beim Aufstehen war mir schmerzlich bewusst geworden, dass ich die beiden Prüfungen, die ich hätte reiten sollen, verschlafen hatte. Wegen meines Katers. Wegen meines Absturz. Wegen einer dummen Flasche Wein und allem, was danach passiert war. Paul, Simon, Hände im Gras. Das- und daran bestand kein Zweifel- würde noch einen Anpfiff geben und mir ewig vorgehalten werden. Ich gähnte herzhaft und immerhin ohne dass mir dabei schlecht wurde, während ich aus dem Bad durchs Wohnzimmer zur Küche ging, wo meine Mutter gerade kochte.
„Darf ich mitessen?", fragte ich. „Oder vielleicht besser nicht?"
„Wieso solltest du nicht mitessen dürfen? Nahrungsentzug war doch noch nie die Bestrafung der Wahl hier, oder?" Sie hielt mir auffordernd ein scharfes Messer hin und deutete auf das Gemüse auf der Arbeitsfläche. „Mache dich nützlich."
Keine zwei Minuten später- meine Augen brannten und tränten, während ich eine Zwiebel kleinschnitt- fragte ich meine Mutter, wo sie mein Handy hingelegt habe, aber sie zuckte ratlos mit den Schultern.
„Ich habe es gestern nicht gesehen. Ob du es nicht mehr hattest, als wir dich eingesammelt haben oder ob es bei deinem Vater im Auto liegt, das kann ich dir nicht sagen."
Mist. Ich warf einen Blick auf die Uhr, deren Zeiger mittlerweile auf drei Uhr standen. Pia war vermutlich schon längst da und sah Paul- wie verabredet- bei seinen Prüfungen zu. Soweit ich wusste, sollte er gegen vier fertig sein und sich auf den Rückweg machen- zumindest, wenn der Zeitplan eingehalten wurde. Ich hätte beiden gern geschrieben. Pia eine kurze Erklärung dazu, wo ich steckte und dass ich mich doch noch nicht fit genug fühlte, um mich zu ihr zu gesellen; und Paul....tja. Paul hätte ich gern geschrieben, dass es mir leid tat und dass er sich vor meinem Vater in acht nehmen sollte. Ich war mir nicht sicher, wie wütend der wirklich war und wie viel von dieser Wut Paul am Ende abbekommen würde.
„Wann kommt Papa eigentlich?", fragte ich und bemühte mich um einen gelassenen Ton. Ich machte mir keine Illusionen darüber, dass das krachen würde. Meine Mutter mochte gelassen reagiert haben, er würde das nicht. Nicht, wenn es mir wirklich so schlecht gegangen war wie meine Mutter behauptete und daran hatte ich- so, wie ich mich fühlte- gar keinen Zweifel.
„Wenn das Essen fertig ist."
„Und wann soll das sein?" Seufzend strich ich mir eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn.
„Felix ist wohl gerade durch mit der Siegerehrung und sie laden die Ponys auf und kommen nach Hause. Also gleich." Mit einem verklärten Lächeln auf den Lippen trat meine Mutter neben mich, zog ihr Handy aus der Hosentasche und zeigte mir ein Bild von Felix auf Lugar, dass mein Vater ihr wohl gerade geschickt hatte. Zugegeben- der schwarze Ponywallach, auf dem schon Lukas und ich geritten waren, und mein Bruder sahen ziemlich schick aus. „Dritte in der Dressurreiter L. Gut, oder?" Sie sprach es nicht aus, aber der Stolz in ihren Augen war unübersehbar. Felix hatte sich mal eben bei seinem ersten Start in der Klasse L eine vordere Platzierung erritten, was auf dem zwar turniererfahrenen, aber doch ziemlich phlegmatisch veranlagtem Lugar schon eine Leistung war. „Vielleicht muss doch noch ein echtes Dressurpony einziehen."
„Meinst du nicht, dass seine Beine ziemlich bald zu lang werden?", meinte ich und zoomte näher heran. Mein Bruder war für sein Alter ziemlich groß und wenn er in dem Tempo weiterwuchs, dann würde er kaum noch drei, vier Jahre Ponys reiten.
„Ach, Quatsch." Immer noch entrückt vor sich hin lächelnd steckte meine Mutter das Handy weg. „Wo soll die Größe herkommen? Das kann genetisch gar nicht vorgesehen sein. Der hört schon auf zu wachsen."
Sie sinnierte die folgenden Minuten laut über Felix Nachwuchspony. Klar, Endmaß, am besten schon erfahren, viel Go und nicht zu grell dabei. Und hübsch, natürlich hübsch. Ein Dressurpony musste einfach hübsch sein. Ich schmunzelte vor mich hin und ließ ihren Gedankengang unkommentiert. Dafür, dass sie vor ein paar Wochen Felix noch unbedingt zum Springen hatte überreden wollen, schien sie sich mittlerweile überraschend gut damit abgefunden zu haben, dass er Dressur ritt- nur Dressur. Was so eine Schleife an Lugars Trense doch bewirken konnte. Die Stimmung zwischen ihr und mir war so gelöst wie schon lange nicht mehr und ich genoss es wirklich. Als das Essen ohne unser weiteres Zutun auf dem Herd vor sich hin köchelte und wir es uns mit einer Tasse Kaffee am Küchentisch gemütlich machten, war es fast ein bisschen wie früher an- zugegebenermaßen- sehr seltenen Familiensonntagen: einfach gemütlich. Ich war ihr dankbar dafür, dass sie das Thema Paul nicht anschnitt. Vermutlich wusste sie genau, dass ihr das totsicher jemand abnehmen würde. Als sich ein Schlüssel im Schloss der Wohnungstür umdrehte, holte ich vorsichtshalber tief Luft. Es würde unangenehm werden, mindestens unangenehm. Ich bemühte mich um einen reumütigen Gesichtsausdruck, zog meine Knie eng an den Körper und hielt mit der freien Hand meine Kaffeetasse fest.
„Ich bin Dritter geworden!", rief Felix begeistert im Flur und donnerte seine Schuhe beim Ausziehen gegen die Wand. Mir gegenüber verdrehte meine Mutter leidend ihre Augen.
„Habe ich schon gesehen. Super!", rief sie zurück, während sich seine eiligen Schritte näherten.
„Lugar hat sich beim Abreiten kurz vor Ende richtig erschreckt.", sagte Felix und erschien, über beide Ohren grinsend, in der Küche. „Weiß auch nicht wovor, aber da war er richtig wach. Das hat geholfen." Begeistert ließ er sich auf den freien Stuhl neben mir fallen. „Du siehst richtig schlecht aus, Kim."
„Glückwunsch und danke dir.", gab ich wenig geschmeichelt zurück. Felix provozierte für meinen Geschmack viel zu gern.
„Und wieso hast du Papas Sachen an?"
„Weil deine erwachsene Schwester offensichtlich noch gar nicht so erwachsen ist." Mit den Worten betrat mein Vater die Küche und warf mir mit verschränkten Armen einen abschätzenden Blick zu. „Schaffst du es mit mir zu reden, ohne den Inhalt deines Magens über meinen Schuhen zu verteilen?"
„Hm." Mehr mochte ich nicht sagen. Ich hatte das Gefühl jederzeit versehentlich den Zünder einer Bombe auslösen zu können.
„Dann ab." Er machte eine auffordernde Kopfbewegung und ging mir ins Wohnzimmer voraus.
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so. sehr stressige Phase vorerst überlebt. Lasst euch das Feierabendteilchen schmecken.
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...