Part 76

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Nach einem zwanzigminütigen Fußmarsch erreichte ich das Gelände vom Verein und schlängelte mich zwischen den Autos durch, die wie jedes Jahr schon die halbe Straße zuparkten. Umständlich zog ich mein Handy aus der Tasche und sah, dass Paul geschrieben hatte, dass sie am großen Springplatz waren und noch ein L-Springen anschauten. Gut, auf zum Springplatz. Ich blieb kurz stehen, orientierte mich und sicherheitshalber nochmal und ging dann über den Kiesweg weiter. Die Weinflasche, aus der man- wenn man den Gläser gehabt hätte- vielleicht noch ein Glas herausbekommen hätte, trug ich immer noch in der Hand und ich spürte den Alkohol ganz schön deutlich. So deutlich, dass die Fußgänger und Reiter, die an mir vorbeigingen, eher unwirklich an mir vorbeizogen. Dennoch ging ich noch unverdächtig geradeaus. Hätte ich zu dem Zeitpunkt schon gewusst, wie der Abend enden würde, ich hätte genau das mehr wertgeschätzt. Ich verließ den Kiesweg, als ich inmitten einer Gruppe Paul erkannte. Er lehnte zwischen drei Mädels und einem Typen am Zaun und schaute in den Parcours und drehte sich erst um, als ich direkt hinter ihm stehen blieb.

„Kim, schön, dass du..." Er brach ab und sah auf die Weinflasche in meiner Hand. „..hier bist."

„Ich hasse meine Mutter.", sagte ich ohne Umschweife und ziemlich laut. „Deswegen betrinke ich mich mit ihrem Lieblingswein." Unpassenderweise schossen mir Tränen in die Augen. „Wie läuft das Springen?"

Er legte mir die Hände auf die Schultern und schob mich vorsichtig ein paar Schritte rückwärts, weg von den anderen, die taktvoll ihre Blicke wieder auf ein junges Mädchen und ihren schmalen Rappen richteten, die gerade im Parcours unterwegs waren.

„Bist du okay?", fragte er leise. „Wir können gehen."

„Ich will nicht gehen."

„Was ist passiert?" Seine Hände ruhten noch immer auf meinen Schultern und ich schluckte schwer und schüttelte den Kopf.

„Ich will bleiben.", wiederholte ich mich und blieb ihm die Antwort schuldig.

„Dann gib mir die hier." Er versuchte mir die Flasche aus den Fingern zu ziehen, aber ich hielt störrisch dagegen.

„Als ob du heute nichts trinkst."

„Du kannst ja trinken- später. Jetzt ist Pause." , sagte er entschieden und sah mich auffordernd an. „Sonst bringe ich dich nach Hause, ob du willst oder nicht."

Ich hielt die Flasche unvermindert stark fest. „Pause ist okay. Ich mache Pause."

Dann ließ ich zu, dass er mir einen Arm um die Schultern legte und sich mit mir zurück zu den anderen stellte. Er stellte mich vor und nannte mir ihre Namen. Zweimal Anna, Sophie und Malte. Sophie kannte ich von früher, sie war ein Jahr jünger als Paul und ich und hatte früher immer ein weißes Welsh-Pony mit krassem Hechtkopf geritten. Von Anna eins und Anna zwei hatte ich noch nie etwas gehört oder gesehen, aber immerhin wusste ich, dass Malte und Paul schon mehrfach zusammen das Jump and Drive bestritten hatten, das fester Programmpunkt beim Vereinsturnier war. Paul ritt, Malte fuhr Kettcar. Im letzten Jahr hatten sie gewonnen. Als ich Sophie begrüßte, erwiderte sie, dass sie mich mit den kurzen Haaren beinahe nicht erkannt hätte. „Wo ist der Zopf?"

„Den hat mein Bruder abgeschnitten.", sagte ich mit einem Schulterzucken. „Gefällt's dir?"

Sie blinzelte ein bisschen irritiert, nickte dann aber. „Ist hübsch, ja."

Pauls Finger schlossen sich ein bisschen fester um meinen Oberarm und er drückte mir verstohlen einen Kuss auf die Haare, als keiner hinsah. Von dem Springen bekam ich nicht viel mit. Stattdessen lehnte ich mich an Paul an, der seinen Klammergriff keine Sekunde lockerte und erst nach mehreren Minuten das Gespräch mit den anderen wieder aufnahm. Ich hörte seine Stimme, sein Lachen dicht an meinem Ohr und spürte immer wieder seinen aufrichtig besorgten Blick auf mir. Er kannte mich gut genug, um zu wissen, dass irgendetwas passiert sein musste, dass den normalen Wahnsinn überstieg.

Als das Springen um kurz nach neun sein Ende fand und die Ehrenrunde gelaufen war, holten Sophie und Malte Pommes für alle und wir ergatterten einen Stehtisch. Paul hatte noch einmal versucht, mir die Weinflasche wegzunehmen, aber schließlich aufgegeben. Während wir aßen, planten Paul und Malte akribisch ihre Strategie für das Jump and Drive, die man auch mit einem schlichten „Gas geben" hätte zusammenfassen können, aber es war trotzdem lustig die beiden dabei zu beobachten, wie sie voller Begeisterung den Triumph des letzten Jahres Revue passieren ließen. Anna eins war, wie sich im Laufe des Gesprächs herausstellte, nicht nur nett, sondern auch die Freundin von Malte. Sie erzählte, er habe die ganze Woche über immer mal wieder das Kettcar aus der Garage seiner Eltern geholt und geübt.

„Wie soll ich denn sonst auch einschätzen, wie eng man Kurven fahren darf? Das ist ja auch von den Bodenverhältnissen abhängig.", empörte er sich, als alle lachten. „Im Ernst, seid ihr schonmal mit einem Kettcar in einer Kurve verreckt, weil der Boden zu matschig war? Ich schon! Das hat Paul und mich vor zwei Jahren nämlich den Sieg gekostet."

„Der Boden war so tief und schlecht.", erinnerte sich Paul und grinste. „Meinem Pferd hat's ein Eisen abgezogen und der Vorsprung war trotzdem so groß, dass ich dachte, wir könnten nicht mehr verlieren. Und dann bleibt der einfach im Dreck hängen. Zwei Wochen habe ich davon geträumt."

Es war fast zehn, als Paul und Malte die erste Runde Bier holten. Paul gab mir widerstrebend und nur in Austausch für die fast leere Weinflasche einen Becher ab.

„Ich habe dich im Blick.", sagte er leise, als er sich wieder neben mich stellte und mit mir anstieß.

„Das", setzte ich an und stellte mich auf die Zehenspitzen. „will ich doch hoffen.", wisperte ich ihm zu. Er sah mich an wie vom Donner gerührt, während ich den anderen zuprostete und einen großen Schluck trank. 

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