Am Donnerstag vor unserem verabredeten Wochenende schrieb ich ihm. Ich musste wissen, ob ich ein Zugticket nach Hause buchen sollte oder nicht und ich würde das von genau einer Sache abhängig machen: ob er vorhatte herzufahren oder nicht. Es war keine Option mehr auszuharren und abzuwarten, bis er mit seinen Überlegungen fertig war. Wir hatten uns zehn Wochen nicht gesehen. Seit über einem Monat dachten er und ich jeder für sich nach- es reichte. Wenn er nicht herkommen wollte, würde ich nach Hause fahren- ohne mir dafür bei ihm eine Erlaubnis einzuholen. Wenn er mir keine Wahl ließ, würde ich ihm notfalls die Wohnungstür eintreten. Genau da lag auch der Grund dafür, warum ich mich wirklich nicht länger hinhalten lassen wollte. Die Spatzen pfiffen es von den Dächern- Paul würde ausziehen. Die Info hatte die Runde von meinen Eltern über Lukas zu mir gemacht und ich hatte fassungslos auf Lukas' Nachricht gestarrt, der mich ahnungslos gefragt hatte, ob Paul und ich zusammenziehen würden. Das würden wir ganz sicher nicht. Ehrlicherweise war ich nach den Wochen, in denen ich in Sack und Asche wegen meines Totalausfalls gegangen war, jetzt vor allem eins: enttäuscht. Mein Anruf vor der Prüfung mochte keine filmreife Entschuldigung und der Zeitpunkt schlecht gewählt gewesen sein, aber ich hatte ihm alles gesagt, was zählte: ich hatte ernsthaft nachgedacht, ich wollte ihn sehen, ich liebte ihn. Dafür, dass er letzteres in dem Moment nicht hatte erwidern können oder wollen, hatte ich Verständnis. Dafür, dass er sich kommentarlos eine neue Wohnung suchte und auszog, nachdem er derjenige gewesen war, der davon gesprochen hatte, mit mir zusammenziehen zu wollen, hatte ich keins. Es fühlte sich wie verletztes Nachtreten an und wenn es das wirklich sein sollte, wenn er meinen Fehler so unverzeihlich fand, dass er sich immer noch rächen wollte, dann gab es vielleicht nichts mehr, was ich tun konnte, um das zu ändern. Nachdem diese Nachrichten also ihren Weg zu mir gefunden hatten, brauchte ich nicht einmal Pia anzurufen, um für mich eine Entscheidung zu fällen. Wir würden uns sehen- so oder so.
Tatsächlich antwortete Paul auf meine Nachricht innerhalb weniger Minuten. Er könne es mir nicht versprechen. Morgen würde er es nicht schaffen, vielleicht am Samstag. Er würde sich melden. In einem ersten Impuls hätte ich ihn fast gefragt, wann er angefangen hatte, Termine auf unser Wochenende zu legen und ob er mir damit etwas sagen wolle, aber ich ließ es. Ich schickte ihm ein bissiges „Danke für die Info" und fing an, meine Reisetasche zu packen.
In Jeansshorts, einem dunkelgrünen, schulterfreien Top, meine Haare zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden und dem Riemen meiner Tasche über der Schulter marschierte ich unbeirrt auf das Auto meiner Mutter zu, die auf dem Parkplatz auf mich wartete. Ich war froh, die Zugfahrt hinter mir zu haben. Das Warten, das Nichtstun- ich hatte mich dagegen gewappnet, in dem ich mich noch bei Benthe geschminkt hatte. Ich habe mein Leben im Griff. Mein Freund wird mich nicht verlassen- und wenn doch, dann soll es ihm dabei wenigstens leidtun. Das waren zwei sehr trotzige Gedanken, von denen ich wusste, dass ich sie loslassen musste, bevor ich wirklich mit ihm sprechen würde. Bei all der Enttäuschung, die ich in mir trug, hatte ich die Frage, um die der Streit entbrannt war, nicht vergessen. Ich wusste, was ich für eine Freundin sein wollte. Schon bevor ich von seiner Wohnung gehört und mich entschieden hatte, nach Hause zu kommen, hatte ich das für mich klar benennen können. Ich wollte mehr reden, ich wollte weniger Alleingänge machen, ich wollte ihn mehr unterstützen und mehr darüber nachdenken, was er von mir brauchte. Ich wollte mehr Kompromisse machen. Seit ich von seiner Wohnung wusste, gab es allerdings ein paar Dinge, die ich auch von ihm einfordern würde. Die Bereitschaft, einen Konflikt zu lösen, wenn er entstand, stand ganz oben auf dieser Liste.
„Kim." Meine Mutter stieg aus, als sie mich auf das Auto zukommen sah und ich kniff sorgenvoll die Augen zusammen, als ich ihr Humpeln bemerkte. Sie lächelte meine besorgte Miene weg, zog mich in eine feste Umarmung und versuchte, mir meine Tasche abzunehmen, was ich noch abwenden konnte. „Du siehst gut aus.", sagte sie und musterte mich. „Du bist braun."
„Ich habe ja auch nur einen halben Tag eine Reithose an.", antwortete ich mit einem gequälten Lächeln und stieg ins Auto. „Dafür humpelst du.", schob ich hinterher, als sie einstieg.
„Weiß ich.", sagte sie mit einem schiefen Grinsen. „Dabei habe ich auch nur einen halben Tag eine Reithose an." Sie wollte gerade den Motor starten, als sie sich nochmal zu mir herüberbeugte und mir einen ungeahnt sanften Kuss auf die Wange gab. „Schön dich zu sehen, Kim. Du hast uns gefehlt."
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Könnt ihr das Finale schon riechen?
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...