Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlug, brauchte ich einen Moment, um mich zu orientieren und zu erinnern. Ich war zuhause, in meinem alten Kinderzimmer. Nach dem gestrigen Abend war ich nicht mehr nach unten gegangen. Nach drei Tellern Spaghetti hatte ich mich auf dem Sofa eingerollt und war eingeschlafen, noch bevor die anderen den Film überhaupt angestellt hatten. Meine Mutter hatte mich geweckt, als sie selbst ins Bett gehen wollte und ich war- völlig erschossen- quasi vom Sofa in mein Bett gefallen. „Mache den Wecker für morgen mal aus.", hatte sie noch gesagt und danach hatte ich weitergeschlafen, bis eben, tief und ohne Gedanken an das zurückliegende Wochenende. Draußen war es schon hell und durch das offene Fenster hörte ich die Vögel singen. Wie früher, wie immer. Verschlafen rollte ich mich auf die andere Seite und zog mir die Decke bis an die Nasenspitze. Nicht, weil mir kalt war, es war einfach zu gemütlich. Ich hörte, wie in der Küche Geschirr klapperte und irgendwann hörte ich, wie Felix mürrisch „Guten Morgen" sagte, während er durchs Wohnzimmer zur Küche stampfte. Müde streckte ich meine Hand nach meinem Handy aus und warf einen Blick aufs Display. Zwanzig nach sieben. Normalerweise wäre ich um die Uhrzeit längst auf den Beinen. Ich schloss noch einmal für einen Moment die Augen, drückte mein Gesicht ins Kissen und holte tief Luft, ehe ich die Decke zurückschlug und die Beine aus dem Bett schwang. Beim Rausgehen zog ich mir noch einen alten Pulli über und ging in die Küche, dem Geruch des Kaffees hinterher.
Felix kam mir entgegen, nicht weniger schlecht gelaunt guckend als er eben noch geklungen hatte, ignorierte mein verschlafenes „Morgen", schnappte sich seinen Rucksack und seine Jacke und knallte die Tür hinter sich zu.
„Ist der jeden Morgen so?", fragte ich, als ich in die Küche kam und meine Mutter mit einem Kaffee am Tisch sitzen sah.
„Für einen Schultag war das freundlich.", erwiderte sie schmunzelnd. „Kaffee?"
Wir sprachen beide wenig, während wir unseren Kaffee tranken. Ich hatte die Knie an meinen Körper gezogen und sah aus dem Fenster auf den Hof herunter. Links ein Teil der Stallungen, daneben die große Reithalle und daneben der Dressurplatz. Dahinter grüne Wiesen, Bäume und Morgensonne. Zum ersten Mal seit Pia das Thema München angeschnitten hatte, vielleicht auch schon seit längerer Zeit, fühlte ich mich ruhig. Müde, aber ruhig.
„Echt schön.", sagte ich leise und nickte Richtung der Wiesen, als meine Mutter mich ansah. „Ist mir lange nicht mehr aufgefallen."
„Ja, das ist es.", sagte sie und warf selbst einen langen Blick aus dem Fenster. „Manchmal muss man sich dran erinnern, mal hinzuschauen und zu sehen, was man eigentlich hat."
Langsam stand ich auf, den Blick noch immer auf den Hof gerichtet. Ich sah, wie jemand mit einem schlanken Fuchs aus dem Stall kam, aufsaß und zur Reithalle herüberritt. Der jemand war Paul.
„Lukas hat sich gestern übrigens gemeldet.", sagte meine Mutter und riss mich damit aus meinen Gedanken.
„Wann denn das?"
„Als ich gestern gekocht habe." Sie streckte ihre Beine lang aus. „Marie hat sich wohl von ihm getrennt."
„Was?", fragte ich perplex. „Sie hat sich von ihm getrennt?" Ich wandte mich ihr zu und sah sie ungläubig an. „Wieso das denn?" Im Leben hätte ich nicht erwartet, dass sie ihn verließ. Wenn, dann andersherum, aber selbst das hatte ich nach unserem letzten Gespräch nicht mehr erwartet.
„Sie wollte wohl mit ihm zusammenziehen und er hat sich mit Händen und Füßen gewehrt." Schmunzelnd nahm meine Mutter noch einen Schluck Kaffee. „Nein, im Ernst- sie hatte wohl den Eindruck, dass er sich nicht richtig auf die Beziehung einlässt und als er dann nicht mit ihr auf Wohnungssuche gehen wollte, hat es ihr gereicht."
„Nicht ihr Ernst.", sagte ich und schüttelte den Kopf. „Er mochte sie wirklich, das hat er mir noch gesagt."
„Er war aber kein bisschen verliebt- zu keiner Zeit."
„Hat er dir das etwa erzählt?"
„Das brauchte er nicht zu erzählen, das war offensichtlich. Und ich bin ganz froh, dass sie es dann auch mal sehen wollte." Unbekümmert stand sie auf und fing an, das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen.
„Wie geht es ihm denn?", fragte ich, noch immer geschockt.
„Es geht." Sie seufzte. „Er meinte, zwei Trennungen in zwölf Monaten wären dann doch eher ätzend. Jedenfalls soll ich dir von ihm ausrichten, dass er deswegen leider keine Zeit und keine Nerven hatte, auf deine Nachricht zu antworten."
„Meine Nachricht?" Langsam kehrte die Erinnerung an die Nachricht zurück, die ich ihm in der Nacht geschrieben hatte, in der Paul mir die Pia-Geschichte gebeichtet hatte. Ich hatte ihn ziemlich angemacht. „Kommt er her?"
„Nein, ich habe es vorgeschlagen, aber er meinte, er schreibt lieber weiter an seiner Masterarbeit."
Ratlos sah ich zu meiner Mutter herüber, die sich keine allzu großen Sorgen um Lukas zu machen schien. Hätte ich damals nicht mit ihm in der Küche gesessen und gesehen, wie nah ihm die Trennung von Inga immer noch ging, dann hätte ich vermutlich nicht anders reagiert. „Mama", begann ich vorsichtig. „Kann ich spontan Urlaub nehmen?"
„Weil du zu Lukas willst?"
„Nur heute und morgen? Lolo und Milano vertragen ein bisschen Pause, Donni darf eh gerade erst wieder traben und die anderen..." Ich brach ab, weil ich wusste, dass die anderen Pferde an jemand anderem hängen bleiben würden.
„Du weißt doch nicht mal, ob er das gerade will.", sagte sie, klappte die Spülmaschine zu und wandte sich mir zu.
„Vielleicht hätte ich mich damals gefreut, wenn jemand gekommen wäre." Wenn ich denn jemandem von Thomas erzählt hätte.
Sie überlegte, sichtlich hin und hergerissen, ehe sie nickte. „Rufe ihn an, wenn er möchte, dass du kommst, dann fahre halt hin. Aber Kim- du bist morgen Nachmittag zurück. Dann brauche ich mein Auto."
„Danke." Ich hauchte ihr einen Kuss auf die Wange, den sie sichtlich überrumpelt aushielt und eilte zurück in mein Zimmer, um Lukas anzurufen.
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Lukas ist einfach immer für eine Überraschung gut ;)
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...