Nachdem Paul am Sonntagabend wieder gefahren war, brauchte ich zwei Tage, bevor ich wieder im Alltag ankam. Wieder alleine aufwachen ging mir auf die Nerven, wieder alleine einschlafen noch mehr und mit Benthe kochen war zwar nett, aber nach dem Wochenende auch erstmal nicht genug. Paul ging es ähnlich. Marieke, die meine schlechte Laune hautnah miterlebte, schleifte mich am Mittwoch schließlich mit zum Sport, weil sie der Meinung war, dass irgendwann nur noch rohe Gewalt helfe. Unter roher Gewalt verstand sie Kraftausdauertraining in der Gruppe und im Fitnessstudio. Während sie mehr oder weniger anmutig der Trainerin hinterherturnte, brach ich nach der Hälfte fast mit zitternden Armen und Beinen zusammen, aber Marieke behielt Recht: Ich bekam danach solchen Muskelkater und war so müde, dass Paul in den Hintergrund trat. Ganz abgesehen davon, dass ich mich von Marieke dazu überreden ließ, mich selbst im Fitnessstudio anzumelden und von da dreimal in der Woche nach der Arbeit mit ihr zum Sport ging. In den ersten Wochen brauchte es eine Menge grimmiger Entschlossenheit und noch mehr Sticheleien von Marieke, um irgendwie mitzuhalten, aber schließlich traute ich mich auch ohne sie und hängte sogar manchmal noch eine Runde Cardiotraining an. Meine Mutter gratulierte mir zur klügsten Entscheidung meines Lebens, als ich ihr davon erzählte, dass ich mich jetzt regelmäßig im Fitnessstudio quälte und erzählte, dass sie Felix neuerdings zusätzlich zum Reiten zur Leichtathletik schickte. Als sie das erzählte, dachte ich an seinen seltsamen Ausraster in der Küche und fragte sie, ob sie das täte, um seine neuerdings auftretenden pubertären Launen in den Griff zu kriegen. Sie schnaubte, erinnerte mich erneut daran, dass ich in dieser Sache wirklich kein Recht hatte, Felix zu verurteilen und räumte dann ein, dass sie nur versuchte, irgendwelche Interessen neben dem Reiten am Leben zu erhalten. Die Frage, ob Felix denn nun an Leichtathletik mehr Spaß hätte als am gemeinschaftlichen Frühstück konnte ich mir trotzdem nicht verkneifen, woraufhin meine Mutter mit einem verzweifelten Ächzen das Telefon an meinen Vater weiterreichte.
Es lief also- trotz der verdammten sechs Wochen- erstaunlich gut. Es war ein Samstagnachmittag, die vierte Woche war geschafft und Marieke und ich saßen bei ihr auf dem Sofa und guckten über ihren Laptop eine von Pauls Prüfungen aus Mannheim, die wir übers Internet verfolgen konnten. Wir quatschten mehr als dass wir zusahen, bis Paul dran war und ich rutschte schon während er einritt fast vor Anspannung vom Sofa. Er saß auf Lolo, der so frisch und sportlich in die Bahn getrabt kam, dass ich vor Neid fast blass geworden wäre. „Den bin ich ein paar Jahre geritten.", sagte ich zu Marieke und griff tief in die Chipstüte zwischen uns.
„Macht dir das nichts?", fragte sie und tat es mir nach, indem sie ebenfalls ihre Hand in der Chipstüte versenkte.
„Geht so.", murmelte ich wahrheitsgemäß und musste mich zusammenreißen, um nicht an den Nägeln zu kauen, als Paul grüßte und angaloppierte. Die Runde, die er mit dem Wallach zeigte, war stilistisch fein und fehlerlos und Marieke ächzte fast enttäuscht, nachdem die letzte Stange liegenblieb.
„Damn, jetzt müssen wir das Stechen auch noch gucken.", murrte sie, wehrte aber ab, als ich ihr anbot, dass ich mir das auch schenken könne. „Ach, Quatsch." Sie schüttelte den Kopf. „So oft kannst du ihn ja nicht live und in Farbe bewundern."
Ich lächelte verlegen, schickte Paul eine Nachricht, in der ich ihm zu der guten Runde gratulierte und ihn fragte, wo er denn dieses krasse Pferd aufgegabelt habe, aber er antwortete nicht. Was mich nicht verwunderte- er hatte vermutlich zu tun. Außerdem war ich mir fast sicher, dass er in den Minuten vor seinem Start Barbie Girl im Ohr hatte.
„Was meinst du?", fragte Marieke, als das Stechen losging. „Sichere Runde oder will er nach vorn?"
„Ich glaube nicht, dass er auf Sicherheit reiten will.", erwiderte ich langsam. Dazu waren Lolo und Paul mittlerweile zu eingespielt, der Wallach war nicht mehr grün und Paul ganz schön selbstbewusst geworden. „An seiner Stelle würde ich es schon mal versuchen."
„Na denne." Marieke grinste und ließ sich tief in die Kissen sinken. „Dann kann es ja losgehen."
Ich wusste selbst nicht wieso, aber ich wurde mit jedem Reiter nervöser. Als ob ich und nicht Paul reiten müsste. Als er einritt, sichtlich angespannt, konzentriert bis in die Fingerspitzen, hielt ich die Luft an und hätte beinahe selbst gespürt, wie fokussiert er gerade war. Ich wusste einfach zu genau, wie sich das anfühlte. Ich sah, wie er fast unmerklich nickte, wie er den ersten Sprung anvisierte und anritt. Er machte sich danach gleichermaßen Lolos große Galoppade und seine Rittigkeit so geschickt zum Vorteil, dass die Runde extrem kontrolliert aussah und Marieke klappte der Mund auf, als sie sah, wann die Zeit stehenblieb. „Krass...", sagte sie und schlug mir fest auf den Oberschenkel. „Hey, dein Typ liegt vorn! Freude bitte!"
Ich hatte mich auch gefreut- für genau die Zeitspanne, in der Paul nach dem letzten Sprung ausgelassen gejubelt und Lolo gelobt hatte, während der ausgaloppierte. Aber als die Kamera ihm zum Einritt folgte, sah ich nicht nur eine unserer Pflegerinnen, die Lolo direkt zur Begrüßung ein Leckerli reichte, sondern auch eine blonde, schlanke junge Frau in Jeans und dunklem T-Shirt. Ich brauchte auch nicht zweimal hinzusehen, um sie zu erkennen. Es war Jenny und ich spürte, wie ich mich auf dem Sofa versteifte, als er direkt hinterm Einritt von Lolos Rücken rutschte und sichtlich aufgeregt eine lachende Jenny in eine stürmische Umarmung zog. Die Kamera schwenkte zurück in die Halle und ich saß wie versteinert da.
„Was ist?", fragte Marieke und zog die Augenbrauen zusammen. „Ist das Mädel seine Ex, oder warum guckst du wie ein Reh im Scheinwerferlicht?"
„So ähnlich.", sagte ich und hörte meinen eigenen Herzschlag in den Ohren.
„Rege dich ab.", hörte ich Marieke sagen, ohne dass es so richtig zu mir durchdrang. „Eine Ex ist meistens aus gutem Grund eine ehemalige Freundin." Sie tätschelte mir das Knie und griff nochmal in die Chipstüte.
„Sie ist aber nicht seine Ex.", murmelte ich abwesend und hielt schon mein Handy in der Hand, um ihn anzurufen. Ich wollte einfach sicher sein, dass er abhob. Marieke packte mein Handgelenk und sah mich ernst an.
„Atme erstmal durch, bevor du ihn jetzt anrufst. Erzähle mir lieber erstmal, ob die nun was miteinander hatten oder nicht. Du weißt, ich stehe auf Gossip."
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Kommt ihr noch hinterher oder soll ich mal auf die Bremse treten? ;)
Bin mir jedenfalls nicht sicher, ob Marieke die noch erfolgreich ziehen kann.
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...