In den folgenden Wochen ließ die Winterarbeit mit den Pferden immerhin so viel Zeit, dass ich mir abends Gedanken dazu machen konnte, wie es weitergehen sollte. Wenn ich dann den vorläufigen Entschluss fasste, das mit dem Turnierreiten tatsächlich sein zu lassen, träumte ich nachts mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von den deutschen Meisterschaften und davon, wie sich das Turnierreiten auch mal angefühlt hatte- wie die natürlichste Sache der Welt, wie Laufen, wie Fahrrad fahren. So normal, dass ich keinen Gedanken daran verschwendet hatte, wie es sich anfühlen könnte, monatelang zuhause zu bleiben. Der Traum wurde so vorhersehbar, dass ich irgendwann damit anfing, vor dem Einschlafen Yoga-Videos nachzuturnen, um meinen Kopf auszuschalten. Der Erfolg war ziemlich mäßig und wenn ich ehrlich war, war ich mir nicht sicher, wie dringend ich diese Erinnerung wirklich aus meinen Gedanken heraushalten wollte. Gerade, wenn ich mit Donni trainierte, die mit einem dicken Energieüberschuss in die ruhigeren Wintermonate gegangen war und die wirklich alles tat, um mir zu gefallen, war die Vorstellung im neuen Jahr einfach wieder einzusteigen nicht mehr halb so furchteinflößend wie noch im Herbst. Wenn Paul und ich warm eingepackt morgens gemeinsam Fia und Donni warmritten und danach Training hatten, hatte ich das Gefühl, es könnte einfach so weitergehen. Es lief einfach gut mit den Pferden- und je mehr Abstand ich zwischen mich und meinen letzten Turnierstart bekam und je näher das Jahresende kam, desto leichter war es zu vergessen, wieso ich diese Pause wirklich genommen hatte. Mitte Dezember ritt ich sogar ein Trainingsturnier in der Umgebung mit und als ich Donni dort abritt, mittendrin im Trubel des Abreiteplatzes, war von dem Knoten in meinem Magen keine Spur. Mein Kopf war still, meine Gedanken auf den Parcours fokussiert und ich ritt souverän durch, obwohl Donni zwischendurch wirklich heiß wurde. Paul, der nur zum Unterstützten mitgekommen war, erwartete mich mit gereckten Daumen am Abreiteplatz und küsste mich so viel zufriedener, als ich selbst war. „Richtig schön geritten.", sagte er bekräftigend und warf Donni ihre Abschwitzdecke über. Zwei vierzehnjährige Mädels standen derweil an der Umrandung und starrten uns mit offener Faszination an.
„Ich will so reiten können."
„Mir würde der Freund reichen. Oder das Pferd."
Das schnappte ich auf, während ich am langen Zügel an ihnen vorbeiritt und ich war mir nicht sicher, ob es die vorweihnachtliche Stimmung war; ob es daran lag, dass sich nicht nur Donni, sondern auch mein Kopf gut angefühlt hatten; oder ob die dreißigste Yoga-Einheit doch noch irgendeine eigentlich unbeabsichtigte Wirkung zeigte: ich war dankbar. Für dieses Pferd und für Paul, aber viel mehr für das Gefühl, dass endlich einmal alles in Ordnung war.
Am Sonntag vor Weihnachten stand ich vor dem Spiegel an Pauls Badezimmertür und begutachtete mit kritischem Blick mein Outfit. Ich trug ein weinrotes figurbetontes Strickkleid, eine schwarze Strumpfhose und hellgraue, weiche Stiefel. Während ich mich betrachtete, konnte ich meine Großmutter schon kommentieren hören, dass die Stiefel ja übers Knie gingen- ob das denn sein müsse, ob das denn modern sei und nicht vielleicht ein bisschen spätpubertär. Aber süß sähe es ja trotzdem irgendwie aus. Immerhin würde sie dieses Jahr bei der Begrüßung nicht an meinem Zopf ziehen können.
„Gucke nicht so skeptisch.", hörte ich Paul sagen, der auf dem Bett saß und sich gerade seine Schuhe zuband. „Das macht mich nervös."
„Es ist nur ein Weihnachtsessen bei meinen Großeltern.", entgegnete ich und wand mich seufzend von meinem Spiegelbild ab.
„Die du mir als den Endgegner verkaufst."
„So schlimm ist es dann auch wieder nicht." Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust und musste lächeln, als ich echte Besorgnis in seinem Blick sah. „Die beiden sind schon in Ordnung. Mein Opa ist eigentlich wirklich nett. Meine Oma ist ein bisschen schwierig, aber nicht böse."
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...