Als ich am nächsten Morgen meine weiße Reithose anzog und mir einen ordentlichen Zopf flocht, versuchte ich zumindest, ein bisschen Vorfreude zu empfinden. Ein M-Springen mit Milano am Vormittag und gegen Mittag dann die erste Qualifikationsprüfung für den Sonntag mit Lolo standen auf dem Plan. Das ist machbar, sagte ich mir immer wieder selbst und führte mir immer wieder die sicheren Runden aus dem Training vor Augen. Lolo konnte das- und ich konnte das auch. Eigentlich zumindest. Ich gab mir Mühe, über das eigentlich nicht weiter nachzudenken. Als ich zu den Pferden kam, war ich froh, dass Paul nicht da war und mich die Anspannung zwischen uns so nicht aus dem Konzept bringen konnte. Ich hatte keine Ahnung, was er und Jenny gestern noch gemacht hatten. Nach Jennys Angebot, ich könne doch mit den beiden noch was trinken, hatte ich mich zügig aus dem Staub gemacht, mit meiner Mutter zu Abend gegessen und mich früh schlafen gelegt. Eigentlich war ich fit. Eigentlich- ich war genervt von mir selbst, weil ich so unsicher und nervös war, wie ich es einfach nicht von mir kannte. Als ich Milano gesattelt hatte und mir gerade meine Stiefel anzog, kam meine Mutter wie besprochen zu mir, um Milano Schritt zu führen, während ich mir den Parcours ansehen wollte.
Sie begrüßte mich mit den Worten: „Das Springen ist fair gebaut, du kriegst da kein Problem."
„Guten Morgen, Mama.", erwiderte ich seufzend und drückte ihr Milanos Trense in die Hand. „Wir sehen uns am Abreiteplatz." Damit ließ ich sie stehen.
Als ich abritt, hob sich meine Stimmung zumindest ein wenig. Das Wetter war traumhaft, Milano gut gelaunt und voll bei mir. Der Parcours war tatsächlich fair gebaut und die Atmosphäre einfach angenehm. Ich gestattete mir den Gedanken, dass tatsächlich alles gut gehen könnte, wie erleichtert ich dann wäre und wie es den Druck von der Prüfung mit Lolo nehmen würde. Als dann die Starterin vor mir aufgerufen wurde, spürte ich trotzdem, wie mein Magen sich schmerzhaft zusammenzog. „Nicht blöd werden jetzt.", sagte ich leise zu mir selbst, machte einen letzten Probesprung, nickte meiner Mutter zu, die ein letztes Mal nachgurtete und mich dann zum Einritt begleitete. Für einen kurzen Moment legte sie mir die Hand aufs Knie und nickte mir ermutigend zu. „Du machst das schon."
Als ich einritt, merkte ich, dass Milano sich im ersten Moment doch nur zu gern weggeduckt hätte. Die Zuschauerränge waren zwar noch ziemlich leer, aber er war doch spürbar eingeschüchtert von dem großen Platz. Ich grüßte und nahm mir trotz meiner Nervosität- die mittlerweile so schlimm war, dass mein Gesicht kribbelte- die Zeit, Milano kurz den Platz zu zeigen. Als ich angaloppierte und den ersten Sprung anritt, hatte ich für einen kurzen Augenblick den unbedingten Drang, einfach abzuwenden, aber ich biss die Zähne zusammen und spürte, wie Milano anzog und absprang- passend, leichtfüßig. Ich atmete durch und ritt ruhig und kontrolliert weiter. Ich hatte die Stimme meiner Mutter im Ohr, die mir verbot, aus Eitelkeit mehr vorwärts, mehr auf Sieg zu reiten und ritt wirklich jeden Sprung einzeln und mit übertriebener Vorsicht an. Aber es funktionierte. Milano war bei mir, ich konnte jeden seiner Galoppsprünge setzen wie ich wollte und er wartete richtig auf mich. Es wackelte nicht eine Stange und ich verbot es mir, einen Blick auf die Uhr zu riskieren. Erst auf dem Weg zum letzten Sprung legte ich zum ersten Mal ein bisschen zu- und auch der passte. Mein Blick ging zur Anzeigetafel und als ich sah, dass da tatsächlich nur zwei Strafpunkte für Zeitüberschreitung angezeigt wurden, fiel mir ein Stein in der Größe eines Findlings vom Herzen. Ich musste mich arg zusammenreißen, um Milano nicht um den Hals zu fallen und meine Hand zitterte ziemlich heftig, während ich ihm den Hals klopfte. „Danke danke danke.", füsterte ich ihm zu und holte tief Luft. Meine Mutter reckte grinsend beide Daumen in die Höhe und ich konnte nicht anders, als zu lachen. Hätte man mir noch einige Wochen zuvor gesagt, dass ich derart erleichtert und fertig aus einem M-Springen rausreiten würde, ich hätte die Person für verrückt erklärt.
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...