Part 132

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Ich ging nach oben, weil es einfach noch zu früh war, um den Rest des Tages alleine in meiner Wohnung an mir vorbeiziehen zu lassen und ich auch einfach nicht bis zum Einschlafen über die immergleichen Fragen nachgrübeln wollte. Ich war gar nicht unbedingt davon ausgegangen, dass meine Eltern beide oben sein könnten- immerhin war es erst Nachmittag- aber ich hätte zur Not auch mit Felix vorliebgenommen. Umso überraschter war ich, als ich die Tür aufmachte und mehrere Stimmen aus der Küche hörte.

„Hey, ich bin's.", rief ich, striff dabei meine dreckigen Turnschuhe im Flur ab und ging am Weihnachtsbaum vorbei in die Küche, wo mich fast der Schlag getroffen hätte. Meine Eltern saßen am Tisch und ihnen gegenüber saßen meine Großeltern. Die Brille meines Großvaters lag vor ihm auf dem Tisch und er sah so erschöpft aus, als habe er mindestens ein Jahr nicht geschlafen. Meine Oma neben ihm sah in ihrer eleganten, grauen Stoffhose und dem schwarzen, dünnen Rollkragenpulli, der einen starken Kontrast zu ihren grauen Haaren bildete, die sie in einem Dutt zusammengenommen hatte. Mein Blick blieb kurz an der Perlenkette hängen und ich fragte mich einmal mehr, ob ich wirklich mit ihr verwandt war.

„Oh." Damit blieb ich stehen und die Blicke meiner Eltern und meines Großvaters fielen auf mich. Meine Großmutter sah auf die Tischplatte und presste ihre Lippen aufeinander. Vielleicht war nicht nur mit das Weihnachtsessen in unguter Erinnerung geblieben. Ausnahmslos alle sahen ernst aus, aber- und das löste sofort ein ungutes Gefühl aus- meine Mutter war schneeweiß. „Ich bin zurück.", sagte ich lahm, während ich einen nach dem anderen ansah.

„Wie war es im Urlaub? Hast du Paul versenkt?", fragte mein Vater und lächelte knapp, während meine Mutter aussah, als würde sie sich jeden Moment auf die Tischplatte übergeben müssen. Irgendetwas stimmte nicht. Das war kein normales Kaffee-Treffen. Entweder hatte es heftig gekracht, vielleicht wegen des zurückliegenden Essens; oder irgendetwas musste passiert sein.

„Super.", log ich und sah angespannt von einem zum anderen. „Silvester auf Amrum ist unschlagbar." Unschlüssig ob ich mich setzen sollte, stand ich vor dem Tisch und es war schließlich mein Großvater, der einen Stuhl zur Seite schob und auffordernd darauf klopfte.

„Setze dich doch dazu."

Ich folgte der Aufforderung und er fragte sofort nach, ob ich einen schönen Jahreswechsel gehabt hätte, ob wir im Watt gewesen seien und wie es so gewesen sei, der erste Urlaub mit „dem netten Jungen", wie er Paul nannte. Er zwinkerte dabei, aber ich spürte, dass er nicht so bei der Sache war, wie er es sonst gewesen wäre. Ich gab eine sehr kurze Kurzzusammenfassung der letzten Tage, in denen ich alles, was nach Silvester passiert war, außen vor ließ. Danach konnte ich mir die Frage nicht länger verkneifen, was meine Großeltern hier machten und an der Stelle verrutschte der freundliche Gesichtsausdruck meines Opas, mein Vater holte tief Luft, meine Mutter bewegte sich überhaupt nicht mehr, und meine Großmutter begann, an ihren Fingern herumzuknibbeln.

„Martha.", sagte mein Großvater beschwichtigend, aber sie schüttelte ungewohnt heftig den Kopf. Er seufzte, rieb sich die Augen und setzte sich dann seine Brille wieder auf. Erstaunlicherweise ließ ihn das noch müder aussehen. Bevor er anfing zu sprechen, legte er seine Hand auf die meiner Großmutter, deren Lippen mittlerweile so schmal waren, dass sie kaum noch zu sehen waren. Was er dann sagte, zog mir den Boden unter den Füßen weg. Meine Großmutter war krank. Schon lange vor Weihnachten hatte er bemerkt, wie sie sich verändert habe, wie sie aggressiv wurde, wie sie launisch und herrisch wurde und wie das, was er mit einem liebevollen Lächeln in ihre Richtung als Impulsivität beschrieb, zunehmend außer Kontrolle geriet. Kurz vor Weihnachten waren sie bei Neurologen gewesen, bei Psychologen und sie hatten meine Oma ins CT gelegt. Und das Ergebnis kam für mich so unerwartet, dass ich froh war zu sitzen. Frontotemporale Demenz. Das Wortungetüm sagte mir nichts, aber mein Großvater erklärte es so gut wie er konnte. Ihr Verhalten würde sich ändern- sie würde impulsiver werden, aggressiver, irgendwann vielleicht apathisch. Sie würde aufhören zu sprechen. Sie würde pflegebedürftig werden. Und früher oder später würde sie anfangen zu vergessen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie mich immer noch nicht angesehen, ihr Blick klebte noch immer an der Tischplatte, als könnte die ihr abnehmen, was da auf sie und meinen Opa zurollte. Meine Mutter war noch bleicher geworden und sie verharrte noch immer in der exakt gleichen Position, die sie eingenommen hatte, als mein Großvater angefangen hatte zu sprechen. War das der Grund dafür, dass sie sich Weihnachten so aufgeführt hatte? Sie war immer ein bisschen schwierig gewesen, impulsiv eben, dominant, sehr auf eine gute Außenwirkung bedacht, aber was sie mir und meiner Mutter da an den Kopf geworfen hatte, das war auch für ihre Verhältnisse heftig gewesen- zu heftig eigentlich. Ich traute mich nicht, danach zu fragen- und vermutlich gab es auch keine richtige Antwort darauf. Stattdessen brachte ich ein „Ich weiß nicht, was ich sagen soll" und ein „Sagt mir, wenn ich euch helfen kann" heraus, aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ich helfen sollte. Vollends hilflos registrierte ich schließlich, wie meine Oma anfing zu schluchzen und meine Mutter sich einen Ruck gab, aufstand, zu ihr herüberging und anfing sie zu trösten. „Wir sind doch da für dich.", sagte sie immer wieder, während ich meinem Vater ins Gesicht sah, der betroffener aussah, als ich es hätte vorausgeahnt hätte.

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