Es hatte schon beinahe Tradition, dass Paul und ich den Parcours gemeinsam abgingen und es fühlte sich gut an, nach so langer Zeit einfach nahtlos daran anzuknüpfen. Es schien fast so, als sei ich nie für die Ausbildung weggewesen.„Was meinst du? Fünf oder sechs Galoppsprünge?" Kritisch betrachtete ich die Distanz.
„Hm. Ich reite mit sechs, aber L'oiseau's Galoppade ist größer- vielleicht würde ich an deiner Stelle eher mit fünf reiten."
Langsam nickte ich. „Ich denke auch."
Alles, was danach folgte, war absolut vertraut und Routine.
Wir wünschten Jenny Glück, als sie mit Ernie vom Abreiteplatz Richtung Halle ritt und verfolgten ihren Ritt neugierig mit. Es wirkte flüssig, ziemlich harmonisch, bis sie an der zweifachen Kombination ankamen. Ob Ernie den Einsprung unheimlich fand oder sie nicht ganz passend herankam war schwer zu erkennen- es war nur ein Moment der Uneinigkeit und Ernie sprang zu dicht ab, nahm die Stange mit, kam unpassend zum nächsten und wieder klapperte es. Für den Rest des Rittes war die Harmonie schwer angeschlagen und Jenny wirkte mehr als ein bisschen enttäuscht, als sie mit sechzehn Fehlerpunkten den Parcours beendete und Ernie auf dem Abreiteplatz trockenritt.
Sie zuckte nur mit den Schultern, als wir zu ihr herübersahen und wirkte völlig ratlos.
„Hat nicht sollen sein.", sagte sie zu mir im Vorbeireiten, war aber vermutlich nicht halb so gelassen, wie sie in diesem Moment tat.
Kopfschüttelnd ließ ich am Abreiteplatz die Zügel lang und strich Lolo lobend über den Hals.
„Feiner Kerl."
Er war der Letzte, der irgendetwas für den dämlichen Zeitfehler konnte, den ich mir geleistet hatte. Ohnehin war die Zeit knapp bemessen gewesen und ich hatte es ruhig angehen lassen, hatte auf Sicherheit reiten wollen und keinen Flüchtigkeitsfehler riskieren wollen. Mir fielen mindestens zehn Stellen im Parcours ein, an denen ich mit Leichtigkeit ein paar Zehntel hätte sparen können- das verpasste Stechen ging also einzig und allein auf mein Konto.
Ich nickte Paul zu, als er aufgerufen wurde und sich mit Fia langsam in Richtung Einritt begab und sah mich nach Jenny um, bat sie, Lolo festzuhalten und folgte Paul.
Ich beobachtete, wie Paul einritt und grüßte. In der folgenden Minute boten Fia und Paul ein mehr als gutes Bild- Fia wirkte jederzeit wach, sie war konzentriert und sprang mit so viel Übersicht, dass selbst ich neidisch wurde. Paul legte die Distanzen optimal für sie zurecht, unterstützte sie und folgte Fia's Bewegungen so leicht, dass die beiden wirklich wie eine Einheit wirkten. Fehlerfrei absolvierten die beiden den Umlauf und Paul strahlte überglücklich, als er an mir vorbei geritten kam.
Ich reckte meinen Daumen in die Höhe und lächelte. „Schick, Schick!", rief ich ihm zu und nahm Jenny Lolo wieder ab.
„Sie hat mich völlig überrumpelt.", gestand er lachend. „Keine Ahnung, was mit ihr los ist- so springt sie sonst wirklich nicht."
„Vielleicht macht sie das ja für dich noch mal.", sagte ich grinsend und glitt aus Lolos Sattel.
Genau das passierte. Ziemlich perplex gratulierten wir Paul am Ende zum zweiten Platz, nachdem die beiden eine zügige und fehlerfreie Runde im Stechen hingelegt hatten. Auch hier hatte es nicht den Hauch einer Unsicherheit oder Unkontrolliertheit gewesen und die Platzierung war mehr als verdient- ich war irgendwo zwischen Verwirrung und grenzenloser Euphorie! Was hätte mein Gespräch mit Paul am Vorabend besser untermauern können als dieser Erfolg in eben diesem Starterfeld? Es war kein kleines, regionales Turnier- es war eines der größten nationalen Turniere und dies eine der bedeutendsten Prüfungen.
„Das feiern wir.", stellte Jenny fest. „Egal, wie grässlich ich deswegen morgen reite, das wird richtig gefeiert!"Am nächsten Morgen wachte ich auf, blinzelte, stöhnte auf und schloss die Augen wieder.
Ekelhaft und gemein stach das Licht in meinen Augen. Eine ganze Weile blieb ich einfach still liegen, die Augen fest geschlossen und versuchte den vorigen Abend zu rekonstruieren, was mir erschreckend schwer fiel.
Gegen zehn waren wir mit einigen Bekannten losgezogen, waren in einigen Kneipen gewesen, die ich vermutlich niemals wiedererkennen würde und hatten- na ja- gefeiert. Verschwommen erinnerte ich mich daran, dass wir getanzt hatten, dass es lustig gewesen war und deutlich klarer erinnerte ich mich daran, dass wir ziemlich ordentlich getrunken hatten. Wann ich das letzte Mal so blau gewesen war, wusste ich gar nicht mehr. Vielleicht war ich auch einfach noch nie so betrunken gewesen. In den frühen Morgenstunden waren wir dann wieder Richtung Hotel gestapft- ich erinnerte mich daran, dass Jenny und ich uns beieinander eingehakt hatten, vermutlich, um nicht einfach umzufallen. Paul hingegen...Ich strengte mein Hirn an, was mir nicht so recht gelingen wollte. Paul hingegen....war irgendwie gar nicht auf dem Rückweg dabei gewesen, soweit ich mich erinnerte. Es dauerte eine Weile, ehe die Information wirklich zu mir durchsickerte, dann seufzte ich leise und öffnete die Augen erneut.
Alkohol und Partys verfluchend richtete ich mich auf und tapste ins Bad. Duschen wäre vermutlich das Beste in dieser Situation. Tatsächlich half das kühle Wasser, den Kopf freier zu kriegen, mich selbst wieder wahrzunehmen und die Schifffahrt des Bodens zu beenden. Dennoch, die Kopfschmerzen blieben.
Ich fühlte mich ziemlich elend, als ich meine Zimmertür hinter mir abschloss und zu Pauls Zimmer hinüberging. Inständig hoffte ich, Paul möge weniger verkatert sein, als ich es war- ihn jetzt rumleiden zu sehen, war das Letzte, was ich gebrauchen konnte.
Vorsichtig klopfte ich an seiner Tür, aber nichts und niemand rührte sich.
Vermutlich stellte er sich tot, in der Hoffnung einfach liegen bleiben zu können.
Beherzter klopfte ich erneut und zog verwundert die Augenbrauen hoch, als sich wieder nichts tat.
Langsam drückte ich die Klinke zu seinem Zimmer herunter- eigentlich hatte ich nicht wirklich damit gerechnet, dass sie aufschwingen könnte, ich war fest von einer abgeschlossenen Tür ausgegangen.
Das „Guten Morgen" blieb mir im Halse stecken, als ich neben Paul jemanden im Bett liegen sah. Neben ihm schlief tief und fest niemand anderes als Jenny. Kurz blieb ich stehen, unschlüssig, was ich denken oder tun sollte.
Die Uhr zeigte sieben, allerhöchste Zeit zum Turniergelände zu fahren.
„Morgen?", sagte ich leise, mit fragendem Unterton. Paul rührte sich, murmelte irgendwas Unverständliches vor sich hin und schlug dann die Augen auf.
Entschuldigend lächelte ich ihn an. „Ähm...Wir...Wir müssen los." Selten war mir irgendetwas so peinlich gewesen, wie in diesem Moment. Ich hasste es, in diesem Raum zu stehen, Paul zu wecken, der mit einer meiner besten Freundinnen im Bett lag.
Scheiß Situation! Scheiß Morgen.
„Ja..." Paul wirkte so, als wäre ihm das ganze Szenario mindestens so unangenehm wie mir. Sein Blick fiel auf Jenny und ich konnte ihn regelrecht denken sehen. Er blinzelte kurz, nickte dann langsam und schlug die Decke zurück. „Bin auf dem Weg."
„Ich geh' schon vor.", sagte ich, hob kurz die Hand, drehte mich auf dem Absatz um und schlug die Tür hinter mir zu.
Sowohl auf dem Weg zum Turniergelände als auch bei der kurzen, morgendlichen Arbeit mit den Pferden sprach ich weder mit Paul noch mit Jenny besonders viel- untereinander wechselten sie ebenfalls kaum ein Wort. Ob es daran lag, dass uns allen die Situation peinlich war, ob Jenny und Paul irgendwie sauer aufeinander waren oder ob der Kater die Alleinschuld trug, wusste ich nicht.
Mir selbst ging es viel zu dreckig, um mir ernsthaft darüber Gedanken zu machen, was genau zwischen Jenny und Paul lief. Zwischendurch drängte sich mir die Frage auf, ob das häufiger passierte, ob die beiden irgendwie zusammen waren- aber immer, wenn ich zu intensiv darüber nachdachte, funkte mein Kater dazwischen. Und irgendwie war mir das auch ganz lieb. Das gemeinsame Frühstück fiel aus, wie wir einvernehmlich beschlossen. Keinem von uns war danach, irgendetwas zu essen. Stattdessen verzog ich mich mit meinem MP3- Player auf die Teilnehmertribüne, studierte Parcoursskizzen und beobachtete abwesend eine Dressurprüfung.
Erst eine gute Stunde später ließ Jenny sich neben mir nieder. Sie war blass, hatte leichte Augenringe und wirkte unendlich müde.
Ich schaltete meinen MP3- Player aus, steckte ihn in meine Tasche zurück und wartete.
„Wie geht's?", fragte Jenny.
Ich zuckte mit den Schultern. „Es wird besser. Dir?"
Sie zögerte, ehe sie antwortete. „Mies."
Ich verzichtete darauf, sie zu fragen, weshalb. Zum Einen wäre die Frage ziemlich überflüssig gewesen, wenn man bedachte, wie verkatert wir drei waren, zum Anderen wollte ich von Details zur Nacht mit Paul verschont bleiben. Dazu war meine Laune zu schlecht.
„Anscheinend waren es doch ein, zwei Gläschen zu viel.", murmelte sie.
„Gläschen?!" Lachend schüttelte ich den Kopf. „Wohl eher Fläschchen."
„Hm...Ja, wenn man bedenkt, was ich danach gemacht hab', dann schon."
Anstatt nachzufragen, starrte ich konzentriert ins Viereck.
„Gott, das war schon ein bisschen dämlich von mir." Sie seufzte und ließ den Kopf auf die Knie sinken. „Kannst du mir erklären, wie ich auf die Idee gekommen bin? Ich meine....was hab' ich da gemacht?"
Achselzuckend stand ich auf. „Frag ihn, er wird's schon noch wissen."
Der Rest des Tages verlief erfolgreicher, als der verkorkste Start hatte vermuten lassen. Paul und ich platzierten uns beide in einer Prüfung für Nachwuchspferde mit den Berittpferden und schafften es in der Hauptprüfung mit Lolo und Fia ins Stechen. Jenny hatte zurückgezogen, nachdem Ernie sich vertreten hatte- für sie war das Wochenende also auf ganzer Linie daneben gegangen und ich schaffte es nicht, Mitleid für sie zu empfinden. Am Ende war ich Zweite und Paul Vierter und als wir die Pferde verluden, war ich zufrieden.Die Fahrt verlief schweigsam, da der Himmel seine Schleusen öffnete und den Regen vom Himmel prasseln ließ. Paul war zu konzentriert, um sich viel zu unterhalten und ich schlief, eingehüllt in eine saubere Abschwitzdecke, bis wir zuhause waren.
Es war bereits dunkel und niemand begrüßte uns, was darauf schließen ließ, dass meine Familie selbst noch unterwegs war. Mein Vater war an diesem Wochenende auf einem anderen Turnier gewesen und meine Mutter und Felix waren mitgefahren.
Seufzend zog Paul den Schlüssel aus dem Schloss, drückte ihn mir in die Hand und lehnte sich zurück. „Wieder zuhause.", murmelte er und schloss kurz die Augen.
„So müde?", fragte ich leise und er nickte.
„Ja. Es war ein anstrengender, blöder Tag heute, irgendwie..."
„Für dich hat er doch ganz gut angefangen.", sagte ich und wusste selbst nicht, ob es ein Vorwurf oder ein Scherz sein sollte.
Paul sah mich kurz an und drehte dann stumm den Kopf wieder weg. Er sah unglücklich aus. „Immerhin war das Wochenende ganz erfolgreich.", sagte er nach einer Weile.
„Kann man wohl sagen, was?" Ich war irgendwie froh, dass er meinen zugegebenermaßen dämlichen Kommentar einfach ignoriert hatte. „Fia ist fantastisch."
„Sie hat sich eben gemacht." Lächelnd öffnete Paul die Tür. „Und als Lob dafür bringe ich sie jetzt in ihren warmen, trockenen Stall. Hilfst du mir oder lässt du deine Pferde heute auf dem Transporter schlafen?"
Lolo gönnte sich abwechselnd Heu und Kraftfutter und freute sich sichtlich, wieder zuhause zu sein. Die Berittpferde waren ebenfalls versorgt und Paul kam die Stallgasse entlang auf mich zu, war also mit Fia ebenfalls fertig.
„Sind deine Eltern noch gar nicht wieder da?", fragte er und schob seine Hände in die Hosentaschen.
„Die fahren nun mal auch ziemlich weit.", antwortete ich. „Außerdem haben die bestimmt wieder irgendjemanden getroffen, quatschen noch ein paar Stunden...irgendwie so etwas halt."
Er nickte langsam. „Bist du eigentlich fertig damit, deinen Kram runterzuschleppen und in die Wohnung zu tragen?"
„Bisher nicht."
„Soll ich mein Versprechen nachträglich halten und dir dabei helfen?"
„Sicher." Ich hakte mich bei ihm unter und ging mit ihm zum Haus herüber. Mein Gefühl sagte mir, dass Paul ziemlich fertig war, vermutlich wegen der Sache mit Jenny. Die beiden kannten sich schon ewig und hatten sich immer gemocht, wenngleich sie sich oftmals so heftig gestritten hatten, dass sie sich erst beim nächsten oder übernächsten Turnier wieder versöhnten.
Schweigend gingen wir nebeneinander die Treppe hoch, ich schloss die Wohnungstür auf und knipste das Licht an.
„Wie kann es nur immer so ordentlich sein?", murmelte Paul abwesend und folgte mir zu meinem Zimmer.
Das Chaos, das uns dort erwartete, entlockte ihm schließlich ein Grinsen. Er deutete auf eine der fertig gepackten Kisten. „Die soll runter, nehme ich an?"
„Jep." Ich bahnte mir einen Weg durch die Kisten und Kartons sowie den herumliegenden Kram. „Da sind Bücher drin, die ist also ziemlich schwer, mit der kann ich dir auch helfen."
Paul verdrehte nur die Augen und marschierte wenige Augenblicke später mit der Kiste aus der Wohnung.
Die nächsten Minuten verbrachten wir damit, mein Zimmer leerzuräumen. Als alles unten war, ließ Paul sich auf einem der Stühle nieder und streckte sich.
„Sag mal..." Zögerlich setzte ich mich auf einen der Bücherkartons und hoffte, er möge nicht umfallen. „Zwischen Jenny und dir..."
„Hm?" Er sah auf und ich konnte sehen, dass er bereits wusste, was ich fragen würde.
„Läuft da was zwischen euch?"
„Warum willst du das wissen?"
„Warum nicht?" Ich zuckte mit den Schultern. „Mein Gott, mich fragst du so was doch auch. Es interessiert mich halt. Außerdem sitzt du hier auf meinem Küchenstuhl und wirkst ziemlich unglücklich. Da darf ich doch fragen." Seine Reaktion ärgerte mich mehr, als ich zugeben wollte. Weshalb sollte ich das nicht wissen dürfen?
„Keine Ahnung." Paul lehnte sich zurück. „Nichts läuft da, denke ich."
„Und weshalb guckst du dann so doof?"
Seufzend richtete er sich auf, stützte die Ellbogen auf den Knien ab und sah mich unschlüssig an.
„Sag schon.", quengelte ich, aber er schüttelte nur den Kopf.
„Keine Ahnung.", wiederholte er schließlich. „War irgendwie...ich meine- es ist Jenny..." Er kaute unzufrieden auf seiner Unterlippe herum und ich wusste nun wirklich nicht, was er mit „es ist Jenny" gemeint haben könnte.
„Also keine Wiederholung in Sicht?", fragte ich ziemlich hilflos.
„Kim." Er verzog sein Gesicht.
Unwillkürlich musste ich lachen. „Also nein?"
„Nein. Und jetzt ist die Fragestunde vorbei."
Grinsend zog ich die Knie an meinen Körper. „Sag an- war's gut?"
„Oh bitte." Er verdrehte die Augen, stimmte aber schließlich in mein Lachen mit ein.
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...