Part 97

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Die folgenden Wochen hätten ein Traum sein können. Meine Fußsohlen berührten nach wie vor höchst selten den Boden. Ich schlief- dem eigentlich gefassten Vorsatz nichts zu überstürzen zum Trotz- beinahe jede Nacht bei Paul. Ich gewöhnte mich viel zu schnell daran, mich abends müde in seinem Arm einzurollen und morgens schlaftrunken nach dem Wecker zu schlagen, während sein Arm schwer über meiner Taille lag und er mir halbwach ins Ohr raunte, was er alles lieber tun wollte als zu arbeiten. Ich fühlte mich so zuhause, ob ich morgens mit ihm in den Stall herunterging, ob ich ihm den Einkaufswagen durch den Supermarkt hinterherschob und dabei mit ihm darüber debattierte, was wir denn kochen sollten oder ob ich beim Zähneputzen hinter ihm stand, meine Wange an seinen Rücken schmiegte und meine freie Hand auf seinen Bauch schob. Es war einfach. Simon und Nika sprachen nur noch das Nötigste mit uns, aber ansonsten reagierte das gesamte Team nicht bis freundlich amüsiert auf uns. Sarah, die schon für meine Mutter als Bereiterin gearbeitet hatte, als ich gerade laufen gelernt hatte, hatte lächelnd nur zu mir gesagt, dass eben zusammenwachse, was zusammengehöre. „Ihr habt doch schon immer zusammengeklebt.", hatte sie auf meinen irritierten Blick geantwortet. „Da passt doch niemand dazwischen." Auch meine Mutter hielt sich so vornehm zurück, dass ich mich zwischendurch fragte, ob sie blind und taub sei und nichts mitbekam. Mein Vater sagte kein Wort. Die Stimmung zwischen ihm und Paul blieb unterkühlt freundlich und bis er mich eines Nachmittags anrief, war ich mir sicher, dass er sich einfach weigerte etwas anzuerkennen, was ihm nicht passte. Als ich ihn jedoch am Handy hatte, erklärte er hörbar gereizt, dass er sich gerade um die Hotelbuchungen für die anstehenden Turniere kümmerte. Ob er wohl- natürlich nur um Kosten zu sparen- mir und Paul ein gemeinsames Zimmer buchen könne, man müsse ja nicht unnütz Geld verbrennen. Schwer beeindruckt hatte ich genickt und beinahe vergessen zu antworten. Ich war abends zu ihm gegangen und hatte ihn ohne Erklärung umarmt, bevor ich ihn nach seinem Tag gefragt hatte. Insgesamt bemühte ich mich. Mir klang sein und mein Gespräch in den Ohren, insbesondere seine Forderung, ich müsste Verantwortung übernehmen. Ich versuchte es, war morgens mit Paul eine der ersten unten und abends oft diejenige, die das Stalltor zuschob. Donni machte wieder ihre ersten Sprünge und ich fühlte mich im Training, nicht nur mit ihr, besser als in den Monaten zuvor. Die ersten Tage nach meinem Sieg beim Vereinsturnier hatte ich gedacht, der Knoten sei mit einem Mal und ein für alle Mal geplatzt. Ich fühlte mich sicher, ich war mir meiner selbst und meiner Entscheidungen sicher. Und dann stand die Kiste. Einmal, zweimal, ganz unspektakulär. Ich war nicht passend hingeritten, Milano hatte sich erschrocken und die Bremse gezogen. Beim nächsten Mal steckte ihm einfach noch der Schreck in den Knochen. Es war lächerlich, aber der Vorfall war ein Tritt gegen das Knie des gerade erst zaghaft ausgestreckten Standbeins der Selbstverständlichkeit, mit der ich reiten sollte. Trotzdem versuchte ich mich zusammenzureißen, versuchte mühsam darauf zu vertrauen, dass ich im Parcours die richtigen Entscheidungen traf und immerhin- meistens machte ich keinen groben Mist.



 Erst das nächste, größere Turnier war dann der Schlag ins Gesicht. Schon beim Abgehen des Parcours meldete sich mein alter Bekannter, der Knoten in meinem Magen, zurück. Trotzdem war ich eigentlich zuversichtlich, das im Griff zu haben. Als ich dann mit einer Mischung aus krampfiger Angespanntheit und Hoffnung in den Parcours einritt, war genau so lange alles gut, bis Lolo inmitten der Dreifachen vor einem Fotografen scheute und versuchte, seitlich mehr durch als über einen Hindernisständer zu flüchten und dabei noch ins Stolpern geriet. Lolo lief nicht klar und mir saß der Schock tief in den Knochen. Ich saß danach fast eine Stunde heulend im Stallzelt, während erst Paul und dann meine Mutter auf mich einredeten. Pech gehabt- nicht mehr, nicht weniger. Kopf hoch, abhaken und weiterreiten- aber ich war nach den letzten Monaten nicht gewillt, mir das anzuhören. Ich hatte so sehr gehofft, dass dieses M-Springen mir geholfen hatte und dieses Gefühl, wieder ich selbst zu sein, anhalten würde. Die Enttäuschung darüber, dass das nicht so war, dass ich mich wieder genauso mies fühlte wie zuvor, war zu bitter und so viel schmerzhafter als dieser tatsächlich unglückliche Zwischenfall mit dem Fotografen, der sich sogar noch bei mir entschuldigte und mir auf den Schreck eine Cola ausgab. Trotzdem zog ich gegen den Willen meiner Mutter den zweiten Start des Tages zurück und saß mit starrem Gesichtsausdruck auf der Tribüne, während ich die Prüfung verfolgte, die ich eigentlich hätte mitreiten sollen. Ausgerechnet Jenny, die mit ihrem Ernie die letzten Wochen vor Beginn ihres Studiums nochmal angreifen wollte, kam zu mir und reichte mir kommentarlos ein Stück Kuchen.

„Du kannst dich so glücklich schätzen.", hatte ich mutlos gesagt, nachdem ich den Kirsch-Streuselkuchen verschlungen hatte.

„Wieso?", hatte sie gesagt und ungläubig gelacht. „Weil ich damit aufhören muss, zumindest in dieser Form?"

„Weil du damit aufhören kannst.", hatte ich gesagt und mich dabei über mich selbst erschrocken.

Jenny jedenfalls war der Mund offen stehen geblieben und sie hatte schweigend einen großen Schluck Cola getrunken und dann pseudo-interessiert erst in den Parcours hinabgeschaut und dann ihr Handy gezückt. Sie hatte nicht gewusst, was sie darauf antworten sollte. Ich hatte nicht gewusst, was ich von meiner eigenen Aussage halten sollte. Meinte ich das ernst? Womit wollte ich aufhören? Ich wusste nur, dass ich nicht wollte, dass es so weiterging. Und zack, mit einem Mal klebten meine Füße wieder am Boden. 


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als ob ich Kimmi lange schweben lasse....😉

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