Part 119

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Als ich auf das Auto meines Vaters zu hastete, damit ich das Gekeife nicht länger hören musste, damit ich endlich hier wegkäme und hoffentlich endlich würde Luft holen können, spürte ich wie Paul mit zwei großen Schritten zu mir aufschloss und meine Hand nahm.

„Kim, beruhige dich.", sagte er leise. „Vergiss sie."

„Alles gut.", brachte ich hervor und war selbst erschrocken davon, wie gepresst meine Stimme klang, weil nach wie vor einfach keine Luft meinen Brustkorb füllen wollte.

„Sie ist ein schwarzes Loch."

Das „ist sie nicht" bekam ich nicht heraus. Stattdessen schnappte ich nach Luft und spürte, wie mir kalter Schweiß auf die Stirn trat, die immer- wie der Rest meines Gesichts- heftig prickelte. Ich bekam keine Luft- überhaupt nicht. Es war, als würde ich die Luft nicht mehr aus meinen Lungen bekommen, als wäre aller Sauerstoff verbraucht und ich schaffte es doch nicht, einfach zu atmen. Scheiße. Das Rauschen war auf eine solche Lautstärke angeschwollen, dass ich nur noch sah, wie Paul die Lippen bewegte und etwas sagte, aber ich verstand ihn nicht. Gleichzeitig drückte der Knoten in meinem Bauch, in meiner Brust so fest nach außen, nach oben, dass ich meine Arme fest um meinen Körper schlang, weil ich nicht wusste, wie lange meine Rippen dem Druck standhalten sollten. Ich würde draufgehen- und ich wollte weg. Panisch rang ich weiter nach Luft und spürte, wie mir mit jedem Moment schwindeliger wurde und mit jeder Sekunde die verstrich, versuchte ich stärker gegen den Druck einzuatmen. Mein Herz schlug derweil die wildesten Kapriolen und schwarze Punkte tanzten irre vor meinen Augen und ich wusste, dass ich- wenn ich nicht gerade draufging- wahrscheinlich gerade wahnsinnig wurde.

„Kim..." Paul versuchte mich festzuhalten, versuchte mich in eine Umarmung zu ziehen, aber ich hätte das nicht ausgehalten. Stattdessen taumelte ich mehr als ich ging ein paar Schritte zur Seite, lehnte mich gegen die Garagenwand und ließ mich schließlich mit heftig zitternden Knien in die Hocke sinken. Noch immer versuchte ich krampfhaft zu atmen und ich spürte, wie sich der kalte Schweiß auf meinem Gesicht mit Tränen vermischte. Ich würde durchdrehen oder sterben oder eines nach dem anderen. Es würde nicht einfach aufhören.

Als ich sah, wie nicht nur Paul mit einem angsterfüllten Gesichtsausdruck neben mir in die Hocke ging, sondern die anderen bemerkten, was passierte, als sie sich zu mir umdrehten, mit entsetzten und besorgten Gesichtern, war es, als würde das letzte bisschen Sauerstoff mit einem Schlag aus meinem Körper gedrückt.

„Geht weg!", hörte ich Paul laut über das Rauschen in meinem Kopf sagen. „Das ist eine verdammte Panikattacke. Lasst sie in Ruhe." Stimmengewirr, Felix, der mich verständnislos anstarrte; Lukas, der mich so fassungslos und geschockt ansah, wie er zuvor meine Großmutter angesehen hatte, meine Mutter, die meinen Vater festhielt, der aussah, als wäre es sein Brustkorb, der sich anfühlte, als würden seine Rippen von innen bersten- und ich war Schuld daran. „Im Ernst jetzt.", wiederholte Paul lauter. „Geht weg!"

Sie gingen nicht weg, aber sie traten ein paar Schritte zurück, und Lukas schlang Felix einen Arm um die Schultern und verschwand um die Ecke der Garage.

Panikattacke. Ich wurde also wirklich wahnsinnig. Mein Kleid klebte mittlerweile an meinem verschwitzten Rücken und ich fror wahnsinnig.

Paul ließ ein Knie auf den Boden sinken und legte eine Hand auf meinen bebenden Oberschenkel. „Das geht vorbei. Das ist gleich vorbei." Er klang, als wolle er das nicht nur mir, sondern auch sich selbst versichern und neben all dem Rauschen und Prickeln, neben dem schmerzhaften Druck in meinem Brustkorb, spürte ich seine Hand. Sie bewegte sich nicht. Sie lag einfach da und er- der mir versprochen hatte, dass das vorbeigehen würde- saß ruhig neben mir. „Gleich vorbei.", sagte er nochmal und verstärkte den Druck seiner Hand auf mein Bein und ich schloss die Augen, versuchte abzutauchen, abzutauchen an diese Stelle meines Körpers, auf der seine Hand, seine warme, ruhige Hand lag. Die einzige Stelle, die nicht zitterte, sich zusammenkrampfte oder prickelte. Ich wusste nicht, wie lange es dauerte- aber irgendwann war ich angekommen. Es war ruhig. Ich konnte wieder atmen. Das Rauschen ebbte ab, das Prickeln ließ nach. Es war wie nach einem vernichtenden Sturm unheimlich still. Paul wollte seine Hand wegziehen, aber ich hielt ihn fest, weil ich das noch nicht ausgehalten hätte. Seine Hand war gerade wie ein Pflaster auf einer Wunde und die Haut darunter- ich- fühlte mich so wund, so verletzlich an, dass ich es noch nicht abreißen wollte.



Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber irgendwann nahm Paul ungeachtet meines halbherzigen Protests seine Hand weg und ich öffnete meine Augen. Er lächelte nicht. Irgendwie hatte ich erwartet, dass er das tun würde.

„Alles okay.", sagte er halblaut zu mir, vielleicht auch zu meinen Eltern, dann holte er tief Luft. Er sah so aus, als habe ich ihm einen Felsbrocken auf die Schultern gelegt- und ich verstand es sofort. Irgendwie musste er es nicht aussprechen, damit ich es erahnte. „Könnt ihr von drinnen ein Glas Wasser und irgendwas mit Zucker besorgen?", wandte er sich an meine Eltern, die immer noch mit einigen Schritten Abstand zu uns dastanden.

„Brauche nicht.", murmelte ich.

„Braucht doch.", sagte er knapp.

„Da muss keiner meinetwegen wieder rein.", sagte ich und spürte einen verdächtigen Stich in meinem Brustkorb, als ich daran dachte, dass sie meiner Großmutter begegnen würden.

„Das ist egal." Sein Tonfall war so resolut, dass ich keinen weiteren Widerspruch wagte und stattdessen lieber die Finger meiner linken Hand mit seinen verhakte. Es tat mir Leid- er tat mir Leid. Der Abend war furchtbar gewesen und das hier- ich- setzte dem noch die Krone auf.

Tatsächlich hatte ich keine zwei Minuten später ein Snickers und eine Flasche Wasser in der Hand, beides eiskalt, weil beides aus dem Handschuhfach meiner Mutter stammte. Es half trotzdem und je mehr Schokoladen-Erdnuss-Mischung ich abbiss, umso weniger zittrig wurde ich. Gegen das elende Gefühl half es aber nicht. Ich schämte mich. Für das Drama, dafür, dass alle mir dabei zugesehen hatten, wie ich völlig die Kontrolle verloren hatte, wie ich panisch nach Luft geschnappt hatte, obwohl doch eigentlich nichts gewesen war. Sonst würde ich wohl kaum jetzt, gut zwanzig Minuten später, wieder atmen können. Außerdem, und der Gedanke ließ mich fast an meinem Snickers ersticken, schämte ich mich dafür, dass ich die Sache mit dem Abi ausgesprochen hatte, dass ich das überhaupt ernsthaft in Erwägung gezogen hatte, dass ich über ein Studium nachgedacht hatte. Tief in meinem Inneren- und vermutlich war das auch der Grund, weswegen ich einfach keine Entscheidung für meine Zukunft treffen mochte- hatte ich diese Dinge geahnt, die sie angesprochen hatte. Ihr dabei zuzuhören, wie sie das vor meiner Familie und vor Paul aussprach....Ich steckte mir den letzten Happen vom Snickers in den Mund und kletterte mit Lukas, Felix und Paul auf die Rückbank. Die Rückfahrt würde vermutlich ein Alptraum werden und irgendwie sah ich schon kommen, wie die Polizei uns anhalten würde. Gleichzeitig konnte ich es nicht erwarten, den weißen Alptraum, vor dem wir immer noch standen, hinter mir zu lassen. 


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Singuläres Event oder Panikstörung in the making?
Außerdem: ist Kim ein Felsbrocken oder was hat Paul da auf den Schultern?

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