Wir waren bis zum Mittag geblieben. Donni hatte irgendwann angefangen, nach vorbeigehenden Pferden zu schauen und einmal wenigstens tief durchgeprustet. Das Schmerzgesicht blieb, aber ich war mir sicher, ihr das nach einer solchen OP auch einfach nicht nehmen zu können. Sie sah uns nach, als wir ihre Boxentür schlossen und uns über den Gang entfernten und es kostete mich mehr als bloß etwas Willenskraft, nicht umzudrehen und zu bleiben. Als wir zuhause ankamen, ich mir eine Reithose anzog und an Donnis leerer Box vorbeiging zu einer vierjährigen Fuchsstute, die ich für die Turniersaison aufbauen sollte, gab mir das nochmal einen extra Stich, der sich den ganzen Tag über wiederholte, wenn ich durch die Stallgasse ging, ein anderes Pferd fertig machte und damit in der Reithalle verschwand. Dabei an Lolo und Milano vorbeizugehen, die seit dem Jahreswechsel nicht mehr auf meinem Zettel standen, machte es auch nicht unbedingt besser. Gerade Lolo reckte seinen Kopf, als ich zum dritten Mal an ihm vorbeiging und verstand ganz offensichtlich nicht, wieso ich nicht so langsam auf die Idee kam, ihn doch mal mitzunehmen.
„Du musst schon mit Paul schimpfen, wenn der noch nicht da war, Dicki.", murmelte ich und vermied es sorgfältig, mich zu genau daran zu erinnern, dass Lolo und ich immerhin auch vier Jahre lang ein Team gewesen waren.
Als ich nach der Arbeit bei Paul klopfte, den ich den ganzen Nachmittag über nicht im Stall gesehen hatte, öffnete er mir in Jogginghose und dem dicken, schwarzen Pullover, den er im Winter trug, wenn er den ganzen Tag nicht aus dem Bett kam.
„Hey.", sagte er, drückte mir einen Kuss auf die Wange.
„Hey." Ich machte einen Schritt auf ihn zu, schlang meine Arme um seinen Nacken und ließ mein Gesicht an seine Schulter sinken. Er wusste noch nichts von dem Drama um Donni oder um meine Großmutter und als ich mich an ihn anlehnte, spürte ich mit einem Schlag, wie müde ich war. „Ich habe dich gar nicht im Stall gesehen.", nuschelte ich irgendwo in seine Halsbeuge, während mir fast die Augen zufielen.
„Weil ich mich krankgemeldet habe."
„Oh..." Ich ließ mein Gesicht noch kurz an seiner Schulter ruhen, bevor ich den Kopf dann doch hob und ihn direkt ansah. Er sah ganz schön geschafft aus.
Er schloss die Tür hinter mir, setzte neues Teewasser an und blieb neben der Küchenzeile stehen, während er darauf wartete, dass der Wasserkocher sich meldete. Mit belegter Stimme erzählte er mir, er habe immer noch Halsschmerzen, immer noch Fieber und zum ersten Mal in seinem Leben erfahren, was bitte an Gliederschmerzen so schlimm sei. „Ich habe die Hälfte des Tages verschlafen und die andere Serien geguckt und bin jetzt schon wieder platt.", schloss er, goss den Ingwer-Tee auf und balancierte beide Becher zum Bett, wo ich längst saß.
„Du hast dich gar nicht gemeldet.", murmelte ich, als ich ihm einen der Becher abnahm.
„Weil ich geschlafen habe und du arbeiten musstest." Er schniefte und griff nach der Packung mit Taschentüchern, die neben dem Bett auf dem Boden lag. „Außerdem habe ich gedacht, dass du wohl eh nach der Arbeit rumkommst."
„Hm..." Ich starrte auf meine Knie und wartete darauf, dass ich mir sicher wurde, dass zwischen ihm und mir alles gut war. Die erlösende Erkenntnis blieb zwar aus, aber als er fragte, warum ich so zerstört aussähe, brach es trotzdem aus mir heraus. Ich erzählte- ohne Tränen, aber dafür mit meinem Kopf auf den Knien, was in den letzten vierundzwanzig Stunden passiert war. Ich war zu durch, zu müde, um dabei viel zu fühlen, ich merkte nur, wie erleichtert ich zwei Stunden später war, als ich unter seiner Bettdecke lag und fast schon weggetreten seinen Oberarm umarmte. Paul, der mir erst zugehört, dann mich getröstet und schließlich ins Bett gesteckt hatte, telefonierte dabei mit seinen Eltern, die angerufen hatten, um zu fragen, wie der Urlaub gewesen sei. Genau wie erzählte auch von dem Ausflug in die Heidelandschaft, der Wattwanderung und ich drückte gefühlt mit jedem Wort meine Stirn fester an seine Schulter. Ich wollte zurück. Noch mehr als direkt nach unserem Streit wollte ich die Zeit zurückdrehen. Ich hörte undeutlich mit, wie seine Eltern nachfragten, wie es mir ginge und er erzählte ehrlich, was gerade passiert war. Nicht nur von Donni, sondern auch von meiner Großmutter, womit ich im Leben nicht gerechnet hätte. Ich öffnete meine Augen und sah rüber zu ihm und hörte undeutlich, wie seine Mutter am anderen Ende der Leitung ziemlich entsetzt reagierte.
„Ja, Mama.", sagte er und verdrehte mit einem Blick zu mir seine Augen. „Ja, ich lasse sie nicht hängen. Nein." Er lachte leise, lauschte einem aufgeregten Wortschwall und schüttelte kaum merklich den Kopf. „Die liegt neben mir, Mama....alles gut.... Ja, doch, mach ich doch." Er schloss die Augen, gleichzeitig amüsiert und genervt. „Soll ich sie dir geben? Dann kannst du sie fragen, ob ich mich benehme." Er wartete die Antwort ab und hielt mir dann kommentarlos sein Handy ans Ohr. Noch im gleichen Moment hörte ich die Stimme seiner Mutter.
„Kim, so ein schlimmer Start ins neue Jahr, das tut uns Leid, sag', können wir dir helfen, können wir..."
Ich öffnete meine Augen ein bisschen weiter und sah, wie Paul sich ein Lachen verkniff, während seine Mutter mir innerhalb von sechzig Sekunden mehr Hilfsangebote aussprach, als ich aufnehmen konnte. Überrumpelt bedankte ich mich, versprach mich zu melden, falls ich Hilfe brauchen sollte und versicherte ihr danach bestimmt noch dreimal, dass Paul gerade sein Bestes gab, um für mich da zu sein.
„Ich kenne meine Jungs. Die merken manchmal einfach nicht, wenn jemand sie braucht. Wenn er dich zu deinem Pferd fahren soll, musst du ihm das einfach sagen. Du musst ihn da wirklich in die Pflicht nehmen."
Wäre ich nicht so erledigt gewesen, hätte ich laut gelacht, aber so brachte ich nur ein „Hmhm, mache ich.", hervor, bedankte mich nochmal für ihre Hilfsangebote, reichte Paul sein Handy zurück, rutschte mit meinem Kopf auf seine Brust und hörte weiter mit halbem Ohr dabei zu, wie er noch mit seinem Vater telefonierte. Es hatte etwas seltsam tröstliches, wie die beiden sich über Sport, Samuel und Amelia, den nächsten Besuch bei Pauls Großeltern und über lauter andere alltägliche Banalitäten unterhielten und tatsächlich schlief ich irgendwann darüber ein. Wie Paul sich nach Beendigung des Gesprächs über mich beugte, mein Handy vom Fußboden nahm, kontrollierte, ob meine Eltern oder die Klinik sich gemeldet hatten und es sicherheitshalber auf laut stellte, bekam ich tatsächlich nicht mehr mit.
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So, Kim chillt erstmal eine Runde bei ihrem wohlerzogenen Paulchen, bevor ihr am Ende noch frühzeitig alle Sicherungen durchbrutzeln. Ob sie die Ruhepause noch gut wird gebrauchen können? ;)
Damit verabschiede ich mich aus dem Wochenende in die neue Woche. Euch noch einen schönen Sonntag :)
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...