Part 102

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Nach drei sehr kurzen Stunden Schlaf hatte ich halbwach meine Pferde geritten. Als ich auf Donni saß und sie nach getaner Arbeit noch Schritt gehen ließ, sprach ich mit Paul, der Rasputin ebenfalls die Zügel hingegeben hatte und wie ich froh war, das letzte Pferd für den heutigen Tag geritten zu haben. Er fragte nach dem Anruf vom Vorabend und ich erzählte ihm von meinem Gespräch mit Lukas und davon, dass der jetzt zuhause sei. Der Teil war leicht. Sehr viel schwieriger war es, Paul davon zu erzählen, was ich mit meiner Mutter besprochen hatte und tatsächlich, genau wie ich geahnt hatte, riss Paul geschockt die Augen auf und starrte mich ungläubig an.

„Du überlegst aufzuhören?"

„Im Moment will ich nur keine Turniere reiten.", sagte ich beschwichtigend, aber das zog nicht. Paul fragte mir Löcher in den Bauch. Wieso, wie lange, was dann, was dann nicht und ich konnte, wie schon am Abend zuvor, keine richtigen Antworten geben. „Kannst du das nicht verstehen?", fragte ich, als ich versucht hatte ihm zu erklären, dass ich mich in der letzten Zeit mehr und mehr unwohl gefühlt hatte.

„Ich verstehe schon, weshalb du eine Turnierpause brauchst.", sagte Paul, parierte zum Halten durch und rutschte matt von Rasputins Rücken, wobei er mich zweifelnd ansah. „Aber es ist doch nicht das Reiten an sich, oder?"

Donni blieb von sich aus neben Rasputin stehen und ich tat es Paul gleich und ließ mich aus dem Sattel gleiten. „Eigentlich nicht, nein. Aber es fühlt sich auch nicht an wie früher."

„Wie früher?"

„Als wir drei unsere Ponys geritten haben. Das war schon anders."

„Da war es ja auch kein Job.", sagte Paul und führte neben mir Rasputin vom Platz Richtung Stall.

„Aber Druck hatten wir schon auch, ich meine, wir waren schon im Kader und die Turniere waren schon wichtig und....

Paul unterbrach mich lächelnd. „Die waren für uns wichtig. Wir fanden das wichtig. Aber wirklich wichtig war das alles nicht."

„Für dich fühlt es sich also auch anders an?"

„ Ich verdiene mein Geld damit, dass andere Leute damit zufrieden sind, wie ich ihre Pferde reite und wie die am Ende laufen. Das ist eine andere Sache, als mein eigenes Pony nach der Schule auf den Anhänger zu packen und Turnier zu reiten und mich schlimmstenfalls Montagmorgen im Matheunterricht bei dir darüber zu beschweren, dass ich mies geritten bin. Klar fühlt sich das anders an."

Zögerlich fragte ich ihn, ob er deswegen mal darüber nachgedacht hätte, den Job an den Nagel zu hängen.

„Nein.", sagte er prompt. „Ich habe mich dafür entschieden, weil ich das unbedingt machen wollte und wenn ich morgens um sieben auf dem Springplatz meine Runden drehe, dann ist das der einzige Arbeitsplatz, an dem ich je sein möchte. Auch, wenn es früh ist und sogar, wenn ich auf Rasputin sitze." Er klopfte dem Rappen nachdenklich den Hals. „Es gibt eine ganze Menge Dinge, auf die ich verzichten könnte. Auf den ein oder anderen Pferdebesitzer, auf das Geläster am Abreiteplatz und auf manche Richter zum Beispiel, aber unterm Strich passt es für mich."

Schweigend dachte ich darüber nach, während ich Donni absattelte. Eigentlich hätte ich immer unterschrieben, was Paul eben gesagt hatte. Eigentlich hatte ich immer das gleiche gefühlt und trotzdem war mir in der letzten Zeit mehr und mehr der Spaß abhandengekommen. Dieses Gefühl von Zufriedenheit und Glück, dass alles aufwog, dass mir an diesem Beruf nicht passte, es hatte sich in den letzten Monaten immer seltener eingestellt.

„Und was ist nun mit Lukas?", riss Paul mich aus meinen Gedanken. „Der ist jetzt hier und leckt irgendwelche Wunden, die Inga gerissen hat?"





Genau diese Frage beschäftigte mich auch die nächsten Tage. Lukas schwieg beharrlich, zumindest mir gegenüber. Er war am Montag mit meinem Vater ausreiten gewesen und ich hatte das dumpfe Gefühl, dass er ihm erzählt hatte, was passiert war. Zumindest sah mein Vater Lukas, immer, wenn jemand versuchte, aus ihm herauszubekommen, was denn nun passiert sei, mit einem schwer zu deutenden Blick an. Er tat ihm leid, das sah man, aber wie Lukas selbst hielt auch mein Vater sich mit jeder Kritik an Inga zurück. Ich bekam mehr und mehr das Gefühl, dass er nicht nur Mitleid mit Lukas, sondern auch mit Inga hatte und die Vehemenz, mit der er und Lukas schwiegen, ließ mich nicht daran glauben, dass ein bloßes Wiedersehen Lukas so aus der Bahn geworfen hatte.

„Sprich doch mit ihr, wenn sie dir so fehlt.", hatte ich einmal ratlos beim Abendessen vorgeschlagen, als Lukas wieder mit seinem Blick im Teller ertrank. „Vielleicht habt ihr noch eine Chance."

Lukas hatte ausgesehen, als würde ihm jeden Moment schlecht werden und kaum merklich den Kopf geschüttelt.

„Fehlt sie dir nicht oder willst du nicht mit ihr sprechen?", hatte Felix mit vollem Mund hinterhergeschoben, während er die selbstgemachte Pizza herunterschlang. Er gab sich echt Mühe, Lukas aufzuheitern und meistens funktionierte das ganz gut. Meistens blieb Lukas mit dem Blick bei uns und versank nicht in der Welt, in der nur Inga und er- und vielleicht noch Ingas Freund- eine Rolle spielten. An der Stelle jedoch war Lukas aufgestanden, hatte seinen halbleeren Teller stehen lassen, war in sein altes Zimmer gegangen und hatte die Tür hinter sich zugemacht.

„Lasst die Fragerei.", hatte mein Vater danach sehr leise und sehr eindringlich gesagt. „Manche Trennungsgründe sind schmerzhafter als andere."

„Aber er weiß doch nicht erst seit er sie besucht hat, warum sie...oh." An der Stelle hatte ich nicht weitergesprochen. Vielleicht hatte er es nicht gewusst. Ob sie ihn betrogen hatte und ob sie ihm das jetzt gebeichtet hatte? Aber warum sollte sie? Ich hatte danach nicht weitergefragt und Lukas mit meinen Spekulationen in Ruhe gelassen und er dankte mir meine Zurückhaltung damit, dass er mir am Abend bei der wohl wichtigsten Aufgabe half, die ich derzeit hatte: Gedankenspiele spielen. 



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Was bei diesen Gedankenspielen wohl rumkommt? ;)

AuftauchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt