„Weiß ich nicht.", sagte er nach einer kurzen Pause und legte nachdenklich den Kopf schief. „Irgendwie schon. Ich meine, wäre ich an deiner Stelle in München gewesen, ich würde wohl auch dafür sorgen, dass ich niemanden anpisse und keine Aufmerksamkeit auf mich ziehe. Das mit den Erwartungen,..." Er lächelte vage. „das sehe ich halt nicht so bei dir."
„Wie meinst du das?"
„Na ja, was für Erwartungen willst du denn da unbedingt erfüllen? Wenn es dabei wieder um den Sport geht, dann sind das doch vor allem deine eigenen."
„Na ja, fast." Ich seufzte. „Ganz so einfach ist das nicht."
„Du meinst, deine Eltern würden sonst was erwarten.", stellte er ruhig fest und ich konnte in seinem Gesicht sehen, dass er das Argument nicht gelten lassen würde.
„Tun sie."
„Eher nicht. Mich hat auch niemand gefressen, als es bei mir in den letzten Jahren sportlich gar nicht lief." Er zuckte mit den Schultern.
„Sie sind nicht deine Eltern." Das konnte man nicht vergleichen, fand ich. Überhaupt, ich war mir sicher, dass Paul das nicht nachvollziehen konnte. Seine Eltern hatten nie Pferde gehabt und waren nie geritten. Sie konnten überhaupt nicht einordnen, wie gut Paul eigentlich war und trotzdem waren sie schon früher immer unheimlich stolz auf ihn gewesen.
„Stimmt, zum Glück. Das wäre mir im Moment gar nicht recht." Er grinste breit. „Im Ernst, ich glaube, du hast da eigene Erwartungen."
„Ich will halt niemanden enttäuschen."
„Ich halte dagegen: Du willst dich selbst nicht enttäuschen. Ich glaube, du hast richtig Schiss, dass diese Spinner aus München recht haben: dass du dir nicht selbst erarbeitet hast, wo du stehst und dein Niveau niemals halten wirst, wenn Julian und Sina mal die helfende Hand wegziehen."
„Vielleicht sollte ich dann umformulieren und sagen, dass ich manche Erwartungen auch auf jeden Fall nicht erfüllen möchte. Ich möchte einfach nicht länger hören, dass ich das alles ihnen zu verdanken habe." Mit einem großen Schluck trank ich meine Apfelschorle aus und drehte gedankenverloren das leere Glas in meinen Händen herum.
„Aber wenn das stimmt?"
„ Fängst du jetzt auch noch damit an?" Ungläubig sah ich ihn an. Das hatte ich jetzt nicht erwartet.
Er seufzte leise, ließ meine Hand los und rutschte von der Fensterbank.
„Bringst du dich schon mal in Sicherheit?", fragte ich spitz.
„Ist vielleicht besser." Er ging zum Kühlschrank und schenkte sich Apfelschorle nach. „Im Ernst, darüber denke ich schon eine Weile immer wieder nach. Du bist ja nicht die Erste, die sich anhören muss, dass sie nur aus Grund X irgendwas erreicht hat. Bei mir und Pia wurde doch damals auch gelästert, dass wir mit den Ponys nur so gut waren, weil unsere Eltern genug Geld hatten, teuren Unterricht und noch teurere Ponys einzukaufen. Und das mag nicht die ganze Wahrheit sein, aber es ist auch nicht falsch. Ich würde heute nie beruflich reiten, wenn ich damals nicht zufällig in der gleichen Springstunde im Verein geritten wäre wie du, wenn wir keine Freunde geworden wären und Sina nicht meine Mutter angehauen hätte, ob ich nicht bei euch reiten will. Wenn sie nicht gesagt hätte, dass wir Carlos kaufen sollten, wenn ich nicht gerade wegen unserer Freundschaft sehr viele außerplanmäßige und unbezahlte Reitstunden gekriegt hätte. Vielleicht wäre ich Versicherungsmakler und vielleicht wäre ich damit voll okay." Er lachte und ich schüttelte den Kopf. Die Vorstellung, Paul könnte von früh bis spät im Büro sitzen und sich um Versicherungsfälle kümmern, war absurd. „Gucke dir Pia an. Ich meine, vielleicht ist es besser, dass sie was anderes macht, irgendwas ganz ohne Pferde, aber selbst wenn sie gewollt hätte: die hat ja kaum Geld, Niro irgendwie zu behalten. Von Unterricht oder einem Juniorenpferd mal ganz abgesehen. Man ist auch ein bisschen die Umstände, unter denen man lebt." Er zuckte mit den Schultern und kam zurück zu mir ans Fenster. „Du hast Glück. Deine Eltern stecken viel Zeit und Geld in das, wovon du immer gesagt hast, dass du genau das willst: wirklich erfolgreich reiten. Wenn das jetzt so passiert ist, dann ist das so. Entschuldige dich nicht dafür. Du bist gut, du hast hart dafür gearbeitet. Du wirst nicht weniger gut davon, dass dir jemand auf dem Weg dahin geholfen hat. Ich kenne niemanden, der die Hilfe ablehnen würde, wenn er sie bekommen könnte. Habe keine Angst davor, dass jemand sagt, dass du es ohne deine Eltern nicht geschafft hättest. Das wirst du nie wissen und es ist egal. Sie waren da, die Umstände waren so. Du bist, wer du bist."
Wow. Pauls Monolog hatte gesessen. „Keine Ahnung, ob ich mich jetzt besser oder schlechter fühlen soll.", seufzte ich und sah ihn ratlos an. Du bist, wer du bist. War das nicht genau das, was ich mich bei Lukas gefragt hatte? Ob ich nicht mehr oder zumindest noch etwas anderes war als Super-Kim? Zumal die in letzter Zeit nicht besonders super unterwegs gewesen war.
„Ich meine doch nur, dass du aufhören sollst, dir darüber Gedanken zu machen, ob du dich dafür entschuldigen musst, wer du bist und wo du herkommst. Du bist du. Was du damit anfängst, das ist ja eine andere Geschichte."
Wir hatten danach das Thema gewechselt. Nicht, weil ich Paul übel nahm, was er gesagt hatte. Mir schwante, dass er nicht ganz Unrecht hatte. Dennoch musste ich darüber nachdenken, was ich daraus ziehen wollte und was das für mich bedeutete. Ob es mir half oder ob es mich nur noch mehr unter Druck setzte. Ich war mir nicht sicher.
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...