„Was soll ich tun?", fragte er ungläubig.
„Meine Haare abschneiden."
Er lachte nervös. „Vergiss es, Kim. Ich gehe morgen früh mit dir zum Friseur, aber ich säbele nicht selber an deiner Mähne herum."
„Ich will aber nicht bis morgen warten." Wollte ich wirklich nicht. Je länger ich mein Spiegelbild anschaute, desto weniger wollte ich das Mädchen sein, dass da zurückstarrte.
„Ich habe noch nie irgendwem die Haare geschnitten.", wehrte Lukas ab. „Woher kommt das überhaupt so plötzlich?"
„Das bin nicht mehr ich.", sagte ich und meine eigene Stimme klang fremd in meinen Ohren.
Beunruhigt stellte Lukas sich hinter mich und schaute über meine Schulter in mein Spiegelbild. „Und wieso nicht?"
Weil ich mich nicht mehr um die blöden Haare gekümmert hatte, weil ich einen einzigen Rock im Schrank hatte und fast vergessen, wie es sich anfühlte in den Spiegel zu schauen und zufrieden damit zu sein, wen man da sah. Es ging nicht um die Haare und es ging nicht darum, dass ich die Oberfläche nicht mochte, die zurückschaute. Es ging tiefer, aber meine splissigen, kaputten Haare standen dafür. Als ich versuchte, das Lukas zu erklären, griff er ratlos in meine Haare und seufzte leise.
„Ich habe nur eine Küchenschere.", sagte er gequält und einem letzten Funken Hoffnung, dass ich es mir doch anders überlegen mochte.
„In Mamas Auto ist hinten die Turniernotfallkiste.", sagte ich entschlossen und erkannte meine Stimme immer noch nicht wieder. „Da ist eine alte Haarschere drin."
„Na prima.", ächzte Lukas. „Ich hole sie."
Als er mit der Schere zurückkam, sah er ruhiger aus. Er holte sich einen Hocker aus der Küche, stellte den hinter mich und zog sein Handy aus der Tasche.
„Ich brauche kein Erinnerungsfoto.", sagte ich und lächelte über meine Schulter.
„Aber ich brauche ein „How to Haare schneiden"-Tutorial."
Während der nächsten zwanzig Minuten stand ich völlig unbeweglich am Waschbecken und lauschte dem Ratschen der Schere. Meine Ansage waren mindestens 25 Zentimeter gewesen und ich hatte gleichzeitig Freude und Angst empfunden, als ich gespürt hatte, wie Lukas die Schere ansetzte. „Noch gibt es ein Zurück.", hatte er gesagt. Seitdem arbeitete er ebenso schweigend wie ich. Ich schielte auf den Fußboden und sah eine lange Strähne blonder Haare auf dem Fußboden liegen. Nervös atmete ich aus und schloss die Augen, bis Lukas den Hocker zurückschob und ein bisschen unbeholfen mit seinem Kamm meine Längen durchkämmte.
„Ist kein Meisterwerk, aber sie sind ab.", sagte er und klang ziemlich kleinlaut dabei. Neugierig schob ich meine Hand auf meinen Rücken und musste dann doch ziemlich schlucken, als ich meine Hand weiter und weiter nach oben schob, den Verschluss des BHs unter meinen Fingerspitzen spürte und trotzdem noch mehrere Zentimeter hochwandern musste, bevor ich die Spitzen meiner Haare spürte. Als ich mich umdrehte und versuchte, über meine Schulter im Spiegel meine Haare zu begutachten, sah Lukas angespannt zu.
„Ich habe mein Bestes gegeben."
Das hatte er. So weh, wie der Anblick des blonden Meers an Haaren auf dem Fußboden tat, so frei fühlte es sich an, als ich mir in den Nacken fasste, die Haare zusammenband und dabei die kräftigen, gesunden Enden fühlte. „Danke.", sagte ich leise, selbst seltsam überrumpelt.
„Tust du mir einen Gefallen?", fragte er und legte Schere und Kamm zur Seite.
„Welchen?"
„Falls- nur falls- du mit Paul sprichst und du dir überlegt haben solltest, dass du das mit ihm willst, dann bitte verrate ihm nicht, dass ich das mit deinen Haaren war."
Wir grinsten beide und ich drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Du bist der Beste."
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Ritsch-Ratsch- da war'n sie ab.
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...