Part 40

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„Was heißt denn einfach so?"

„Ich glaube nicht, dass du ihn geküsst hättest, wenn du nichts für ihn empfinden würdest.", präzisierte sie.

„Paul und ich sind schon ewig beste Freunde. Wie soll ich nichts für ihn empfinden? Natürlich empfinde ich was. Er war ja auch immer dabei. Erst mit Pia, dann, als Pia weg war. Als ich noch in München war, habe ich mich bei den Besuchen Zuhause nicht nur auf euch gefreut, sondern auch wie blöd auf Paul- weil er mit der Geschichte nichts zu tun hatte, weil er einfach weiterhin da war und mir das Gefühl gegeben hat, alles sei normal und in Ordnung. Auch seit ich zurück bin- er ist da. Wie soll ich da nichts empfinden?"

Meine Mutter nickte. „Paul ist ein guter Freund, ja. Wieso nicht mehr?"

„Das habe ich doch gerade gesagt.", erwiderte ich aufgebracht, weil ich mich fragte, ob sie es einfach nicht verstehen wollte. „Er ist einfach da. Ich kann darauf vertrauen, dass er da ist. In München hatte ich eine kleine Kostprobe von einem Leben ohne Freunde- Paul als Freund zu haben, ist mir heilig."

„Spielt er da denn mit?", fragte sie zögerlich. „Ich weiß nicht, ob ich das an seiner Stelle lange machen würde."

Schweigend sah ich aus dem Fenster. Wenn ich ihn nicht geküsst hätte, wenn ich meinen Mund gehalten hätte, dann vielleicht. So sicherlich nicht. Bei der Erinnerung an unseren Streit spürte ich einen Stich in meinem Herzen- mir war klar, dass es spätestens nach den Dingen, die wir uns da an den Kopf geworfen hatten, nicht mehr werden konnte wie vorher. „Jetzt sicher nicht mehr.", sagte ich deshalb.

„Und es ist trotzdem keine Option?"

„Wer soll bitte da sein, wenn das schief geht?"

„Du willst nicht, weil du jetzt schon Angst davor hast, dass es auch mal auseinander gehen könnte?", fragte meine Mutter und lachte jetzt. „Wäre es dir denn recht, wenn er jemand anderen hätte?"

„Hat er doch ständig.", gab ich zurück und zuckte mit den Schultern. „Das stört mich nicht."

„Ich meine nicht Pauls kleine Ablenkungen.", gab sie zurück. „Und von denen weiß jeder, Kim, du brauchst nicht fragen, woher ich das weiß. Ich meine jemanden, der ihm wichtig ist und mit der er Dinge bespricht, die dann nicht mehr bei dir landen, wenn er seinen Feierabend nicht mehr mit dir verbringt- oder vielleicht noch einmal in der Woche. Was ist dann?"

„Dann ist das so.", erwiderte ich knapp. Ich hatte sofort das Bild vom Freitagabend vor Augen: Paul und Jenny, die sich für einen Moment ohne viele Worte verstanden hatten, sie, die ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Es war nichts gewesen, aber es hatte mich mehr getroffen als ihre heimlich auf seinem Knie liegende Hand oder ihre blöden Bemerkungen über meine Reiterei an dem Abend. „Ich kann doch jetzt nicht was mit ihm anfangen, nur, weil ich Angst habe, dass es sonst jemand anders tut. Wäre das nicht vielleicht auch eine falsche Motivation?"

Wir diskutierten das Thema noch fast eine Stunde, bis meine Kopfschmerzen sich zu einer Migräne auswuchsen und ich mit stechenden Schmerzen im Kopf und gegen die Übelkeit kämpfend lieber den Mund hielt. Meinen ersten Migräneanfall hatte ich in München gehabt, genauso wie den bisher letzten. Irgendwie hatte ich erwartet, dass es damit einfach vorbei wäre, genauso wie mit meinen Kollegen oder Thomas- falsch gedacht. Als wir endlich zuhause ankamen und den schmalen Weg zum Hof hochfuhren, hätte die Abendsonne über den Wiesen und den Apfelbäumen nicht schöner aussehen können und trotzdem hätte ich viel für einen trüben, grauen, wolkigen Tag gegeben. Das Licht stach gemein in meinen Augen.

„Kannst du ohne mich abladen? Bitte?", brachte ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, als meine Mutter den Transporter abstellte und den Schlüssel abzog. „Sonst kotze ich ins Blumenbeet."

„So schlimm?"

Ich nickte nur und sah, dass meine Hände zitterten, als ich nach dem Türgriff griff. Sie sah es auch und seufzte leise.

„Lege dich hin, ich mache das."



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