Paul warf sich den Rest der Nacht schlaflos hin und her und ich lag so weit entfernt von ihm wie irgend möglich, nicht weniger wach, den Blick auf den Wecker geheftet und wartete. Worauf wusste ich selbst nicht. Es war nicht nur ein turnierfreier Sonntag, Paul hatte richtig frei. Der Wecker würde nicht klingeln. So sehr ich auch versuchte zu begreifen, was da in den letzten Stunden passiert war, umso ratloser starrte ich auf die sich langsam bewegenden Zeiger. Er hatte kein Wort gesagt, kein einziges und ich fühlte mich wie das naivste, blödeste blonde Mädchen unter der Sonne. Ganz sicher fühlte ich mich wie das einsamste Mädchen. Ein einziges Wort, ein Lächeln. Er hätte sich wenigstens umdrehen können. Stattdessen hatte ich gegen seinen stummen Rücken angeguckt. Was war bitte los mit ihm? Nichts zu sagen war niemals seine Art. Neben mir stöhnte er genervt auf und drehte sich wieder herum. Ging ihm die Sache mit Martin und mir im Kopf herum? Ich weigerte mich schon fast, davon als „die Sache mit Martin und mir" zu denken. Verdammt noch mal, ich war daran kaum beteiligt gewesen. Oder war es mein „Ich liebe dich", das ihn sich ruhelos herumwälzen ließ? Wo war sein Problem? Es konnte ihn nicht ernsthaft überrascht haben, dazu...Ich biss mir fest auf die Unterlippe. Dazu waren wir doch eigentlich zu glücklich miteinander, oder? Er hatte zu Pia gesagt, dass er mich liebte. Selbst, wenn er es aus irgendeinem Grund nicht zu mir sagen wollte, warum hatte er mich mit Schweigen dafür bestraft, dass ich es ausgesprochen hatte? Als die Zeiger sieben Uhr anzeigten, hielt ich es nicht mehr aus. Ich stand auf, griff nach meinem Handy und meinen Klamotten und huschte leise aus Pauls Wohnung. Leise, weil ich ihn in dem Glauben lassen wollte, ich hätte nicht bemerkt, dass er wach war. Ich wollte nicht reden müssen- es war komisch genug zwischen uns.
Ohne Frühstück war ich in den Stall gegangen, hatte erst Lolo geritten, eins der Berittpferde longiert und mir anschließend Donni geschnappt. Kaum, dass ich sie aufgehalftert hatte, ging mir der Traum der letzten Nacht und damit die Erinnerung an die deutschen Meisterschaften im Kopf herum. Dieses Jahr war ich einfach nicht hingefahren, obwohl ich startberechtigt gewesen wäre. Ich hätte mein Glück mit Lolo versuchen können. Stattdessen hatte ich zuhause mit Donni das Springtraining wieder aufgenommen, mit so viel Ruhe, dass meine Mutter irgendwann geflachst hatte, dass ich wohl nie wieder vorhätte, Donni voll zu belasten. Es war ein Scherz gewesen und trotzdem hatte ich direkt danach das Pensum deutlich angezogen. Sie hatte Recht gehabt. Donni war fit- und ich eigentlich auch. Es gab keinen Grund dafür, bis in alle Ewigkeit Gymnastikreihen und kleine Kreuze zu springen. Schon im ersten richtigen Training, dass ich vor zwei Wochen mit ihr mitgeritten war, hatte Donni wieder mit Rittigkeit, Vorsicht und Übersicht geglänzt. Ich hatte richtig Spaß gehabt- fast so sehr wie damals im Parcours. Trotzdem spürte ich überhaupt kein Verlangen danach, sie aufzuladen, loszufahren und Turnier zu reiten. Ich vertraute ihr- mehr als jedem anderen Pferd, dass ich ritt und ich hatte im Gefühl, dass ich niemals so heftig abgeschmiert wäre, wenn Donni sich nicht verletzt und sicherheitshalber pausiert hätte. Sie hätte mir Sicherheit geben können, aber – und so ehrlich war ich zu mir selbst- das Problem ging tiefer als Unsicherheit im Parcours. Auch eine Donni hätte mir nicht dabei helfen können, mich weniger beobachtet, weniger unter Druck gesetzt zu fühlen.
Ich zog gerade den Sattelgurt fest, als ich ein „Die hat noch Dreck am Hintern.", hörte und automatisch die Augen verdrehte.
„Merci, Zwerg." Seit Lukas ihn mit dem Spitznamen aufgezogen hatte, war ich dazu übergegangen, Felix nur noch mit Zwerg anzusprechen- und zu meiner größten Freude hasste er es.
„Du springst die wieder, oder?", fragte er und klopfte zu meiner Überraschung Donni den Staub aus dem Fell.
„Schon eine Weile, ja." Ich griff nach der Trense und beobachtete verwundert, wie er sich neben Donnis Kopf an die Boxenwand lehnte. „Was willst du?" Felix kam so gut wie nie einfach so zu mir. Wenn er kam, dann wollte er irgendetwas.
„Nichts." Er zuckte mit den Schultern und sah mich aus seinen grauen Augen an. Er war nicht nur nochmal gewachsen in den letzten Monaten und dabei noch dünner geworden, sein ganzes Gesicht war weniger rund und kindlich. Krass irgendwie. „Geht's dir gut?"
Misstrauisch beäugte ich ihn, während ich Donni die Zügel über den Hals legte. „Wieso fragst du?"
„Nur so. Du siehst scheiße aus." Er schob die Hände in die Hosentaschen und guckte dabei auf die Spitzen seiner Reitstiefel.
Ich rang das dringende Bedürfnis nieder, ihn anzumaulen, weil ich das untrügliche Gefühl hatte, dass ihm irgendetwas auf der Seele brannte. „Ich habe schlecht geschlafen. Warum bist du so eine Pest?"
„Bin ich nicht."
Schnaufend schüttelte ich den Kopf und trenste Donni auf. „Dafür, dass nichts ist und du nichts willst, stehst du schon ungewöhnlich lange neben mir."
„Mir ist langweilig.", erwiderte er und hob den Blick, wobei er seine Arme vor der Brust verschränkte. Ich schloss den Nasenriemen und hätte fast gelacht. Dem war im Leben nicht langweilig- er hatte drei Ponys zu reiten, wahrscheinlich Hausaufgaben zu erledigen und ein Handy in seiner Hosentasche.
„Hast du Stress mit Mama und Papa?", versuchte ich es mit der naheliegendsten Variante.
„Nö. Sollte ich?"
„Hast du eine fünf geschrieben und willst es nicht beichten?"
Felix sah mich an, als hätte ich etwas unaussprechliches gesagt. „Ich habe noch nie was schlechteres als eine drei geschrieben."
„Ekelhaft.", entgegnete ich und zwinkerte ihm zu. „Was dann? Stress mit den Mädchen?"
„Nee...", sagte er gedehnt und richtete seinen Blick wieder auf den Boden. Ich starrte ihn ungläubig an.
„Du bist zwölf, Zwerg."
„Dreizehn, Blondie.", korrigiert er mich und streckte sich. Er war tatsächlich gar nicht mehr viel kleiner als ich.
„Fein, dreizehn." Ich kraulte Donni die Nase, die mich ungeduldig ansah und nicht verstand, weswegen sie fertig getrenst neben mir herumstehen musste. „Wie heißt sie?"
Beharrlich schweigend kaute Felix auf seiner Unterlippe herum und knibbelte an seinen Fingern herum.
„Hat sie dir die Sprache verschlagen?", fragte ich nach und versuchte, weniger grob zu sein. Wenn er zu mir kam, dann musste sie ihn ungeahnt beschäftigen. Im Leben hätte ich nicht damit gerechnet, dass Felix mit sowas zu mir kommen würde. Ehrlicherweise hatte ich aber auch nicht damit gerechnet, dass Felix schon über das „Igitt Mädchen"-Stadium hinaus war.
„Weiß nicht.", murmelte er und stöhnte frustriert auf. „Ist auch egal. Vergiss es." Er ließ seine Schultern sinken und sah so unglücklich aus, dass ich nicht anders konnte, als ihn am Oberarm zu greifen und mit mir Richtung Halle zu schleifen.
„Kennst du sie aus der Schule oder aus dem Verein?", versuchte ich mein Glück beim Raten, was mich wenigstens davon ablenkte, wie mies ich mich noch immer wegen Paul fühlte.
„Schule.", brummte er wortkarg.
„Aha, Schule." Vorm Hallentor blieb ich stehen und ließ die Steigbügel herunter. „Wie sieht sie aus?"
„Ist doch egal.", murmelte Felix und ich hielt erstaunt inne, als ich sah, wie er sich mit dem Ärmelsaum seines Pullis über die Augen wischte.
„Hat sie dich schon gekorbt?" , fragte ich und spürte- zum ersten Mal seit mein Bruder das niedliche Kleinkindstadium mitsamt Bärchenpulli verlassen hatte- einen echten Beschützerinstinkt aufflammen.
Mehr als ein Schulterzucken konnte ich ihm trotzdem nicht entlocken, während ich hilflos zwischen ihm und Donni stand. Kurzentschlossen nahm ich meinen Helm ab und hielt ihn Felix hin.
„Du brauchst Ablenkung. Mein Helm, mein Pferd- rauf mit dir."
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Ach ja, der Zauber der ersten Liebe. Wie verwirrend und aufregend und dramatisch und so ❤
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...