In den folgenden Tagen ging Paul mir mit großem Erfolg aus dem Weg. Ich fragte mich, ob er extra früh aufstand und die Mittagspause verschob, um bloß möglichst wenig Zeit gemeinsam mit mir im Stall verbringen zu müssen, denn ich sah ihn tatsächlich kaum. Und wenn, dann waren wir nie alleine. Beim letzten Springtraining, dass wir am Mittwochmorgen vor dem Turnier ritten, war er schon beim Aufwärmen so demonstrativ konzentriert, dass ich ihn gar nicht erst ansprach. So angespannt wie er wegen der Prüfungen am Wochenende auch sein mochte, ich hatte noch nie erlebt, dass Paul während des Trainings kaum ein Wort sprach. Er hörte sich die Kritik an, nickte, und machte, was meine Mutter sagte. Und das nicht nur schweigsamer, sondern auch nüchterner als sonst. Er, der sonst zumindest bei Fia nicht mit Lob sparte, strich ihr genau einmal anerkennend über den Hals. Dabei sprang sie so gut, dass meine Mutter die beiden nach 30 Minuten rausschickte, weil sie nichts zu meckern hatte.
„Na, das hat ja wirklich gut gekracht zwischen euch.", sagte meine Mutter leise zu mir, als Paul draußen war. Dabei warf sie mir einen prüfenden Blick zu und ich zuckte mit den Schultern.
„Habe ich doch gesagt."
Sie schüttelte kommentarlos den Kopf und ließ mich und Lolo noch fast eine Viertelstunde schuften. Im Großen und Ganzen war ich am Ende nicht unzufrieden. Ich hielt mich an die Anweisung, auf Sicherheit zu reiten und so lange, wie ich genug Zeit hatte meine Wege zu planen, kam ich auch passend zum Sprung.
„Ich will da am Wochenende echt keinen falschen Ehrgeiz sehen, Kim.", warnte meine Mutter mich am Ende nochmal eindringlich. „Du reitest ruhig vorwärts, legst die Wendungen groß und an und guckst nur, dass du passend und im Fluss durchkommst. Du brauchst die Sicherheit."
„Ja doch." Unglücklich verzog ich mein Gesicht. Ich hatte sie verstanden- und sie hatte Recht. Darauf herumzureiten, dass ich unbedingt Sicherheit zurückgewinnen musste, half mir trotzdem nur bedingt weiter.
„Ich weiß, dass du da was anderes gewohnt bist, aber sei bitte nicht zu eitel, um dir die Zeit zu nehmen und einfach fehlerfrei durchzukommen.", schob sie nochmal hinterher und ich nickte.
„Ich habe es verstanden."
Als ich am Donnerstagmorgen die Milano und Lolo auflud, merkte ich, wie mich der Gedanke an die anstehenden Springen langsam kribbelig machte. Nicht so wie sonst, wenn ich vor wichtigen Wochenenden zwar angespannt, aber mit Vorfreude in den Transporter gestiegen war. Ich war nervös, wirklich nervös. Auf das Turnier hatte ich mich zu Anfang des Jahres noch gefreut: eine tolle Kulisse, ein internationales Starterfeld und von der Wichtigkeit als einer meiner Saisonhöhepunkte geplant. Ich hätte nur zu gern erst woanders Sicherheit zurückgewonnen und ganz sicher hatte ich auch nicht eingeplant, nur Lolo für die schweren Springen mitzunehmen. Mit Donni hätte sich das alles nochmal anders angefühlt. Als ich Paul mit Rasputin aus dem Stall kommen sah, lächelte ich ihm matt zu und kontrollierte ein weiteres Mal, ob ich alles wichtige dabei hatte.
„Moin." Mehr sagte Paul nicht, als er Rasputin auf den Transporter führte und danach wieder im Stall verschwand, um Fia zu holen. Dass er Rasputin mitnahm, hatte ich überhaupt nicht gewusst und ich fragte mich, ob er ihn spontan nachgenannt hatte, nachdem er ja gerade bewiesen hatte, dass er sich auch auf dem Turnier benehmen konnte.
Die Fahrt verlief nicht minder schweigsam. Paul hatte sich Kopfhörer in die Ohren gesteckt und starrte fast ununterbrochen auf sein Handy. Meine Mutter fuhr und ich starrte nicht minder still aus dem Fenster.
Als wir abgeladen und die Pferde die Boxen bezogen hatten, konnte ich nicht mehr anders.
„Was reitest du mit Rasputin?", fragte ich Paul, der gerade im Begriff war, sich auf den Weg zu machen und Fias Halfter aufhängte.
„Wir wollten mal das erste S-Springen probieren." Er sah mich nicht an, während er das sagte und ich wusste nicht, ob das daran lag, dass ich genau an der Stelle mit Rasputin nicht weitergekommen war oder ob er mir einfach nicht in die Augen sehen wollte.
„Das schafft ihr schon."
„Bestimmt." Er sah dann doch zu mir herüber und deutete ein Lächeln an. „Pia kommt morgen nach der Uni vorbei- sie ist neugierig."
„Ach..." Natürlich hatte ich davon nichts gewusst. Ich schluckte den Ärger mühsam hinunter und nickte. „Da hat sie ja richtig was zu gucken. Wie lange bleibt sie?"
„Hängt davon ab, ob wir noch ein Bett für sie finden. Sie weiß noch nicht, wie sie das mit der Übernachtung macht."
„Das sie dann den ganzen Weg hierher macht." Ich merkte, dass ich bissiger klang, als ich es wollte. Sie hätte sich ja auch mal bei mir melden können. Sie hätte mich fragen können. Nicht, dass es im Transporter ein Bett gegeben hätte. Ich wartete insgeheim darauf, dass Paul es ansprach, aber er tat es nicht.
„Jaaa..." Paul zuckte mit den Schultern. „Es wird sich schon was ergeben." Damit warf er sich seinen Rucksack über die rechte Schulter. „Wir sehen uns später- ich schaue mir das Hotel an."
Der Rest des Tages verlief ruhig. Am Nachmittag bewegte ich Lolo, damit er sich nach der langen Fahrt die Beine vertreten konnte und longierte Milano, der doch sichtlich beeindruckt von dem Treiben um ihn herum war.
Abends traf ich im Stallzelt zufällig Markus, einen Bekannten von mir, mit dem ich damals zusammen die Euro geritten war und der sein Pony danach an seine kleine Schwester weitergegeben hatte. Ich hatte ihn ewig nicht gesehen und gar nicht mitbekommen, dass er noch Turniere ritt.
„Ach, es hat mich in den Fingern gejuckt. Ich hatte in der Oberstufe nicht mehr so richtig Lust und habe es mit den Großen ein bisschen schleifen lassen.", erklärte er, als ich ihn darauf ansprach. „Aber so langsam ist die Motivation doch wieder da." Er lachte, als ich erzählte, dass ich die Bereiterausbildung gemacht hatte. „Was sonst. Wie geht es Paul? Ich habe gesehen, dass er auch startet."
Ich kam nicht dazu, die Frage zu beantworten, weil just in dem Moment Paul das Stallzelt betrat, dicht gefolgt von Jenny.
„Hey.", sagte sie, kam auf mich zu und umarmte mich irgendwie halbherzig. „Alles gut?"
„Bestens." Ich warf Paul einen kurzen Blick zu, der gerade in Fias Box verschwand. Markus ging zu ihm herüber und ich blieb mit Jenny alleine in der Mitte des Gangs stehen.
„Du hast Lolo dabei?"
Ich schob meine Hände in die Hosentaschen und nickte. Nach meinem Gespräch mit Paul fühlte es sich irgendwie komisch an, ihr gegenüberzustehen. Ob sie mittlerweile wusste, dass Pia mir gesteckt hatte, was zwischen ihr und Paul lief? Oder gelaufen war? Ob sie mit Paul gesprochen hatte? Ob sie mich deswegen so viel kühler begrüßte als sonst? „Donni ist nicht fit. Reitest du?"
„Ne, aber wir wohnen ja quasi ums Eck, da wollte ich einfach mal hallo sagen."
„Am Donnerstagabend?", fragte ich und warf nochmal einen Blick in Richtung Fias Box, wo sich Markus und Paul mittlerweile angeregt unterhielten. Mich beschlich eine vage Ahnung, was sie hier machte. Und ich spürte, wie es mir einen ziemlichen Stich versetzte, dass er mit mir kaum sprach und dann Jenny anschleppte. Genauso, wie es mir am Mittag schon einen Stich versetzt hatte, dass er mit Pia abgesprochen hatte, dass sie herkam.
„Ach, wir wollten einfach ein bisschen was trinken und quatschen, bevor der Stress hier richtig losgeht." Sie folgte meinem Blick und ich meinte zu sehen, wie sie für einen winzigen Augenblick versucht war, irgendetwas zu sagen, es sich dann doch anders überlegte. „ Willst du mit?" , fragte sie stattdessen.
„Ich muss ins Bett.", sagte ich und merkte selbst, dass es nicht nur eine Ausrede war, sondern auch eindeutig wie eine klang.
„Wie du meinst."
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Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...