Am nächsten Morgen goss es wie aus Eimern und der Wind pfiff ums Haus. Es war das ungemütlichste, ekligste Weihnachtswetter, dass ich seit Jahren erlebt hatte. Paul und ich gönnten uns ein echtes Frühstück, einfach, weil Weihnachten war. Wir sprachen nicht viel, während wir verschlafen am Tisch saßen, einen perfekten Kaffee tranken und dazu Aufbackbrötchen mit Frischkäse und Marmelade aßen und obwohl es eigentlich viel zu früh war, um alle Sinne wirklich wach zu haben, war es doch eines der besten Frühstücke, die wir seit dem Sommer gemeinsam gehabt hatten. Ich hatte das Gefühl, dass es Paul entlastet hatte, auszusprechen, wie er zu mir und der Reiterei stand. Ich für meinen Teil hatte einen beachtlichen Teil der Nacht damit zugebracht darüber nachzudenken, wie krass ich fand, dass er sich getraut hatte, das so direkt auszusprechen und es geschafft hatte, mir dabei keinen Vorwurf zu machen. Wesentlich krasser allerdings- und ich hatte auch in der Nacht schon nicht verhindern können, mich merkwürdig stolz zu fühlen- fand ich, dass das nicht die einzige Sache war, die gut lief zwischen uns beiden. Hätte man mir sechs Monate zuvor erzählt, ich würde am Morgen des 24. in Pauls T-Shirt mit ihm frühstücken und dabei meinen Fuß aus purer, träger Gemütlichkeit auf seinem nackten Oberschenkel ruhen lassen, ich hätte es nicht geglaubt. Hätte man mir da erzählt, dass ich praktisch jeden Morgen und Abend gemeinsam mit ihm Zähne putzen und regelmäßig seine Familie treffen würde, ganz unaufgeregt, als sei es das Natürlichste auf der Welt, ich hätte es noch weniger geglaubt. Ich konnte- und das hing ganz sicher mit weihnachtlicher Gefühlsduseligkeit zusammen- mein Glück darüber, dass er immer noch mein bester Freund und gleichzeitig so viel mehr war, kaum fassen. Meine Angst davor ihn zu verlieren hätte uns beinahe um das gebracht, was ich für kein Geld der Welt mehr hergegeben und ganz sicher niemals mit jemandem teilen wollte.
„Wann fährst du heute?", fragte ich ihn, als er sich gerade den Rest seines Brötchens in den Mund schob.
„Früher Nachmittag.", antwortete er und kaute eine ganze Weile, bevor er weitersprach. „Zumindest wollte mein Vater mich dann einsammeln."
„Der kommt her?", fragte ich ungläubig und Paul nickte langsam.
„Einmal im Jahr will er sich angucken, ob das Geld gut angelegt ist."
„Welches Geld?" Neugierig trank ich noch einen Schluck Kaffee.
„Na ja, Fia.", sagte Paul und schmunzelte. „Mir gehören ja nur die Vorderbeine und ein Ohr."
„Spannende Pferdeaufteilung." Grinsend lehnte ich mich zurück. „Aber kommt er im Ernst, um zu gucken, wie es mit ihr läuft?"
„Quatsch." Paul wollte nach seinem Kaffeebecher greifen, wich aber auf meinen aus, als er sah, dass seiner leer war. „Zu Weihnachten kriegt das gute Familienpferd Mash vom Chef- und der bin nicht ich." Mit einem großen Schluck trank er den Kaffee aus, warf einen Blick auf die Uhr und stöhnte genervt auf. „Wo wir beim Thema Chef sind....wir sollten so langsam mal raus."
Als ich am späten Mittag Donni und Lolo aus der Führmaschine holte und die beiden in den Stall zurück führte, musste ich lachen, als ich Felix und Paul auf der Stallgasse sah. Niro trug offensichtlich Weihnachtslook. Die Beine waren rot bandagiert, er hatte eine dazu passende rote Schabracke unterm Sattel, eine rote Abschwitzdecke auf dem Rücken und seine kleinen Ponyohren lugten aus den beiden Löchern einer Nikolausmütze hervor. Felix kniete mit zwei Metern Abstand auf dem Boden und hielt Leckerchen hoch, während Paul über seinen Kopf hinweg Fotos für Pia schoss.
„Kann der irgendwas? Irgendwelche Tricks? Irgendwas ponymäßiges?", fragte Paul, während er mit der freien Hand wedelte, um Niro auf Abstand zu halten, der verliebt auf das Leckerli in Felix Hand starrte.
„Fressen halt.", erwiderte Felix ungerührt.
„Schwache Trickkiste, Niro.", murmelte Paul und steckte das Handy weg. „Wollte Pia noch Reitbilder?"
„Jep." Felix stand auf und reichte Niro das Leckerli, dass der Rappwallach gierig wegschnappte. „Papa macht aber gleich welche. Ich habe noch Dressurstunde." Er verdrehte die Augen und Niro, der offensichtlich Felix Meinung zu Dressurstunden an Weihnachten teilte, schubberte sich hemmungslos mit Trense an seinem Rücken. „Der läuft richtig gut mittlerweile.", sagte Felix mit einem Blick in meine Richtung. „Willst du zugucken?"
Wollte ich eigentlich nicht. Eigentlich wollte ich meine nassgeregnete Reithose ausziehen und mich in Ruhe von Paul verabschieden, den ich erst am zweiten Weihnachtstag bei seiner Familie wieder einsammeln würde. Diese lächerlich langen anderthalb Weihnachtstage ohne ihn gingen mir jetzt schon auf die Nerven. Als der jedoch sagte, er würde sich die Dressurstunde eigentlich gern ansehen, ließ ich mich auch dazu breitschlagen und saß eine halbe Stunde später mit Paul auf der Tribüne. Mein Vater saß- offensichtlich müde und vielleicht selbst nicht mehr richtig überzeugt von der Idee, am Mittag vor Weihnachten noch Unterricht zu geben, auf einem Cavaletti in der Halle und korrigierte mäßig motiviert Felix' Sitz und Hilfengebung, während der den Mittelzirkel um meinen Vater immer wieder vergrößerte und verkleinerte. Niro- und das räumte ich neidlos ein- lief richtig gut. Der Zipfel seiner Weihnachtsmütze wippte im Takt seiner Galoppsprünge und der kleine Rappe schnaubte immer wieder zufrieden ab. Felix, der ohnehin saß wie angeklebt, hatte sich ziemlich schnell an Niros Sportmodus, wie Pia ihn ja liebevoll nannte, gewöhnt und wusste die Gehfreudigkeit von Niro schon ziemlich gut für sich zu nutzen. Und Niro, der sicher fast fünfzig Kilo abgespeckt hatte, kooperierte vorbildlich. Das war sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass er mit seinem klugen Ponykopf genau wusste, um wen er da herumgaloppierte. Mein Vater hatte in den ersten Wochen den Wallach mehrere Male geritten und ich hätte darauf wetten mögen, dass Niro nicht sonderlich scharf auf eine garantiert anstrengende Wiederholung war.
„Hast du langsam mal genug Material?", fragte ich irgendwann belustigt, als Paul sicherlich das zwanzigste Bild von Felix und Niro machte. „Oder willst du Pias Handy zum Absturz bringen?"
„Das ist halt ein fotogenes Pony.", erwiderte Paul grinsend und gab mir sein Handy. „Willst du aussuchen?"
„Klar doch.", sagte ich, nahm sein Handy und ging die Bilder durch. Tatsächlich waren fast alle ziemlich gut geworden. Niro hatte ja nicht einmal seine überdimensionale Weideplautze entstellen können und Felix zog- anders als ich- immerhin keine angestrengten Grimassen beim Reiten.
„Schickes Paar die beiden, oder?", fragte Paul, als er meinen anerkennenden Blick bemerkte.
„Schon, ja. Pia wird sich freuen. Die ist bei ihrer Oma über Weihnachten, oder?"
„Jep. Zwischen den Jahren will sie dann ja herkommen und für Silvester zurück nach Berlin. Hast du schon einen Plan, was wir machen sollen?"
Ich schüttelte den Kopf. „Soll ich ihr einfach die Bilder schicken, die ich schön finde?"
„Klar." Paul zuckte mit den Schultern. „Sind ja eh alle gut."
Ich öffnete den Messenger, um Pia schreiben zu können und zuckte fast, als ich nach unten scrollte, um zum richtigen Chat zu kommen. Neben Pia, mir, Pauls Familie und ein paar Freunden von Paul, sprang mir ein Name ins Auge- Jenny. Das an sich war es nicht, was mir einen Stich versetzte. Es war vielmehr die letzte Nachricht, die in dem Chat geschickt worden war, offensichtlich von Jenny an Paul. Ein einzelnes blödes rotes Herz. Mein Finger schwebte über dem Chat und ich rang mit mir, ob ich darauf tippen sollte oder nicht. Vorsichtig sah ich zur Seite, aber Paul schien nur Augen für Niro und Felix zu haben. Das konnte ich nicht bringen, oder? Andererseits...Wieder sah ich Paul an. Es war nur ein blödes Herz, dass wirklich alles und nichts bedeuten könnte. Vermutlich eher nichts als alles. Sie wusste immerhin von Paul und mir. Ein kurzer Tipp mit dem Finger- und vermutlich hätte ich sofort Gewissheit, dass nichts war. Hätte Paul mir ernsthaft vertrauensselig sein Handy in die Hand gedrückt, wenn er etwas zu verbergen gehabt hätte? Ich schüttelte den Kopf, tippte auf Pias Kontakt, schickte ihr die Bilder und hielt danach Paul sein Handy hin.
----
immer dieses Misstrauen hier... ;)
DU LIEST GERADE
Auftauchen
Teen FictionIch ertrinke. Ich ertrinke in endloser Tiefe, In endloser Aufrichtigkeit. Ich will Auftauchen. Will ich? Kim Feldmann ist 19 Jahre alt und kehrt nach der abgeschlossenen Bereiterausbildung auf den elterlichen Hof zurück. Dort erwarten sie nicht nur...