No. 147

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Semir streichelte vorsichtig Jennys Wange. „Ist alles gut?", wollte Semir von der Krankenschwester wissen. Diese nickte nur und Semir sah zu Lisa, die ihm eine Frage gestellt hatte. Beide sahen sich an, und Semir wusste, dass Lügen aussichtslos war und nickte nur leicht mit seinem Kopf. Helga und Klaus sahen sich verdutzt an und warfen ihrer Tochter fragenden Blicke zu. „Was redest du da?", brach die Mutter die Stille. Semir wollte wissen, wieso Jenny aus dem OP kam, doch einer der Krankenschwester fragte, ob sie Angehörigen von der Patientin waren. „Nein, das ist meine Kollegin", sagte Semir und von der Rest der Familie kam ein verwirrtes Gerede. „Das ist Pauls Frau", flüsterte Lisa. Sie hätte gewünscht, Jenny unter anderen Umständen kennengelernt zu haben und nicht hier im Krankenhaus auf dem kalten, leeren Flur in einem viel zu grossen Krankenbett. Ausserdem hatte sie ein anderes Bild von Jenny im Kopf gehabt. Aber ihr Gesicht sah schön aus, bis auf einige Schrammen. „Nein, Paul ist nicht verheiratet. Das wüsste ich aber!", meinte Helga. „Ich kenne die Frau nicht." „Was ist los?" Emilia verstand nur Bahnhof. „Paul wollte sie euch vorstellen, aber es kam was dazwischen", erinnerte Lisa Helga an das Frühstück heute Morgen, das doch ohne Paul und Jenny stattgefunden hatte. „Wer ist Jenny?" Klaus war in dem Moment leicht verwirrt. Das waren die beiden Krankenschwestern auch, eine vorne und die andere am Krankenbett Hände festhaltend. „Tut mir leid, wir dürfen keine Auskunft geben!" „Aber sie gehört zu unserer Familie!", wollte Lisa die Krankenschwester überzeugen. „Lisa, kann es sein, dass du mehr weisst als wir Eltern?", jetzt war Helga fassungslos und fühlte einen Stich im Herzen. „Wie kann Paul uns das antun? Ohne Eltern zu heiraten? Sind wir ihm peinlich?" Helga schüttelte traurig den Kopf. „Paul und Jenny haben in Amerika geheiratet. Paul wollte es euch selber erzählen", Lisa durchfuhr mit den Händen die blonden Haaren. Die jüngere Krankenschwester pfiff anerkennend und wurde kurz darauf von ihrer Kollegin böse angefunkelt. Semir beendete die Diskussion und liess den Schwestern den Vortritt. Dankend schoben die beiden jungen Frauen Jenny im Bett schlafend auf die Station. „Was machen wir eigentlich hier?", regte sich Klaus leicht auf und Helga hatte Mühe, ihren Mann zu beruhigen. „Mama?" Emilia sah ihre Mutter fragend an. „Ich denke, wir bereden das am besten zu Hause", schlug Lisa vor und Helga fügte bei:"Da bin ich gespannt! Ich kann das nicht fassen." „Seit wann weisst du das?" Emilia sah ihre Mutter mit säuerlicher Miene an. „Emilia, nicht jetzt! Ich erzähle es euch morgen. Lasst uns erstmal drüber schlafen!" „Wie kannst du da ruhig schlafen, wenn dein Bruder noch nicht über dem Berg ist?" Helga schüttelte den Kopf und suchte Halt unter dem Arm von Klaus. „Mama!" „Wieso sah die Frau blass aus?", wollte Klaus wissen. Nun wurde es Lisa zu viel. Semirs Schritten hinter der Familie verlangsamte sich, während die anderen schon fast am Ausgang waren. Eine Nachtschwester an der Pforte bat um Ruhe im Hause, da die Diskussion auf dem langen Flur nicht zu überhören war. „Entschuldigung", meinte Lisa. Semir malte sich in seinen Gedanken aus, wenn einer seiner Töchter ihn mit der Nachricht überraschte, dass sie geheiratet hatte. Er konnte sich gut in Helga hineinversetzen und wäre sicherlich auch erst tief getroffen. Klar, da fragte man sich als Vater, ob man etwas falsch gemacht hatte. „Auf jeden Fall ist mein Partner für Überraschungen gut", schmunzelte Semir in stillen Gedanken und ihm fiel plötzlich ein, dass Hartmut ihm in der PAST das Ergebnis der Untersuchung über das kleine Fläschchen liefern wollte. „Ach, verdammt!", stöhnte Semir genervt, als er den Ausgang erreichte, „was für ein Drama heute!"

Der nächste Morgen war alles andere als erfreulich. Auf dem Revier der Autobahnpolizei war das Unfallgespräch Renner/Dorn Thema Nummer eins. Sogar die Schrankmann kam vorbei, um sich den Fall genauer anzusehen. Frau Krüger konnte ihr klarmachen, dass dies sich um einen Dienstunfall handelte. Von dem Streit der beiden jungen Leute erwähnte die Chefin kein Wort. Auch Susanne und Semir hielten dicht. Sogar Hartmut kam extra vorbei um nach dem Wohlbefinden von Paul und Jenny zu erkundigen. In einem unbeobachteten Moment nahm Semir Einstein zur Seite, schob ihn in das Büro, das ohne Paul so leer wirkte. Semir entschuldigte sich erstmals für sein Verhalten gestern. Einstein winkte ab und zeigte Verständnis. „Und was hast du für mich herausgefunden?", fragte Semir leise. „Es ist das, was ich vermutet hatte." Der rote Blondschopf kramte in seiner Jackentasche nach den kleinen Fläschchen und überreichte sie Semir. „Also doch K.O.-Tropfen." Er sah kurz das Fläschchen an und liess es in die Schublade verschwinden. Zusammen mit Einstein grübelte Semir über eine mögliche Version, und wie Paul da ins Spiel kam. Hartmut bekam einen neuen Auftrag in der KTU und liess Semir alleine zurück. Dieser konnte nicht länger auf dem Stuhl grübeln und beschloss, Jenny einen Besuch abzustatten. Bei Paul würde er auch vorbeischauen. Hatte er es über den Berg geschafft? Bis jetzt hatte Semir keine Nachricht von der Uniklinik gehört. War es ein gutes Zeichen?

Später bewölkte sich der Himmel und Jenny wurde ganz langsam wach. Ihre Augenlider öffneten sich und benommen sah sie an die weisse, kahle Decke. Langsam erinnerte sich Jenny wieder, wo sie war. Der Streit mit Paul. Die Scheidungsunterlagen. Die Bilder des Unfalls. Und die Nachricht, dass sie schwanger war. WAR. Vorsichtig tastete Jenny mit ihren Händen unter die Bettdecke an ihrem Unterleib herab und fühlte im Moment, als wäre ein Teil aus ihrem Herzen gerissen worden.  

California - The Endless SummerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt