No. 162

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Paul zuckte nur mit den Schultern. „Ich hätte mir gewünscht, Jenny in die Augen zu sehen, als ich aufwachte", schluckte Paul. Seine Mutter drückte die Hand ihres Sohnes fester. „Sie wird noch kommen." „Jenny ist eine nette Frau." Klaus lächelte und als Paul ihn ansah, konnte er ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Ach, Papa...ja, das ist sie." Einzig Lisa hatte bislang nichts zu Jennys Verbleib geäussert. Lisa hatte Jenny versprochen, nichts zu sagen, was Jenny dazu bewegte, in die USA zu fliegen. Lisa hatte Mitleid mit ihrem Bruder und versuchte ihn ein wenig aufzumuntern, indem sie ihm erzählte, dass Jenny jeden Tag bei ihm war, sogar auch die Nächte. Dass Jenny jetzt nicht hier war, war vielleicht ein blöder Zufall, denn sie musste was Dringendes klären. „Glaube mir, sie hatte ein schlechtes Gewissen, dich alleine zu lassen, Bruderherz. Sie denkt an dich und kommt so schnell sie kann her." „Wo ist sie denn dann hin?" Pauls Neugier wurde stärker. „Was ist denn wichtiger als mich?" „Das würde ich auch gerne wissen", meinte Helga seufzend. „Ach, beruhigt euch! Wenn Lisa sagt, Jenny kommt bald wieder, dann ist das eben so." Paul und Helga sahen Klaus verblüfft an. „Geht es ihr denn gut? Hatte sie was vom Unfall abbekommen?" Pauls Sorge um Jenny war gerechtfertigt. „Jenny ist bei dem Unfall glimpflich davon gekommen, aber leider hat sie...", weiter kam Helga nicht, denn Lisa ahnte, was ihre Mutter sagen wollte. „Mama!" Die Tochter sah die Mutter mit warnenden Blicken an und schüttelte stumm mit dem Kopf. „Lisa?" Paul bemerkte die Blicke zwischen Mutter und Tochter und wollte mehr darüber wissen. Nun wand sich Lisa ihrem Bruder zu. „Wieso fragst du nicht deine Frau selbst?" „Ich merke doch, wenn du mir was verschweigst. Hatten wir uns nicht als Kinder geschworen, immer ehrlich zu sein?" Diese Frage traf Lisa an den Kopf und da hatte Paul vollkommen Recht. „Ja, aber das hier ist was anderes. Ach, man!" Lisa wusste, dass Paul nicht dumm war. Denn er hatte schon immer ein Gespür gehabt, wenn es um Ehrlichkeit ging. „Wir sollten eigentlich froh sein, dass Paul aufgewacht ist und ihm gut geht und nicht streiten", mahnte Klaus in die Runde. „Papa hat Recht", gab Lisa kleinlaut bei und Pauls Augen wurden gegenüber Lisas Blicke schmaler. „Das Thema ist noch nicht ausdiskutiert."

Derweil in der Küche wirkte Alex nachdenklich. Er spürte, wie seine Mutter ihre Hand auf seine Schulter legte und tröstend sagte:" Bestimmt ist sie durch den Unfall ein wenig neben sich." „Sicher?" Alex spürte die Ablehnung Jenny ihm gegenüber. Viola nickte und versicherte ihm, dass er sich gedulden sollte. Ein gutes Gefühl hatte Alex trotzdem nicht, nachdem ihm seine Mutter erzählt hatte, dass sie bei Jenny zu Hause war und einen Koffer bei ihr gesehen hatte. „Und wo wollte sie hin?", fragte Alex. Viola zuckte nur mit den Schultern. „Das hat sie nicht gesagt, nur dass sie zum Flughafen wollte. Ich habe mich wirklich bemüht, ein gutes Wort für dich einzulegen." „Danke Mama, aber ich glaube, das wird nichts mehr nützen. Wenn Jenny es ernst meint, dann muss ich das akzeptieren, obwohl ich es gar nicht will." Den Teller schob er vor sich hin. Das Essen, das seine Mutter für ihn gekocht hatte, hatte er kaum angerührt. „Junge, nun mach dich nicht so fertig! Du bist doch ein Kämpfer, kriegst doch fast immer alles, was du möchtest." Alex fuhr mit den Händen durch seine kurzen Haare und seufzte tief aus. „Fast alles ja, aber Jenny nicht. Ist wie ein Jackpot, schwer zu knacken." Alex lachte kurz auf, sah dabei seine Mutter mit gefährlichem Blick an. „Wie hat das der Renner geschafft, Jenny innerhalb kurzer Zeit an sich zu reissen?"

Als Jenny den Flughafen in Los Angeles verliess, wehte eine warme Luft an ihrem Gesicht, als sie den Ausgang hinter sich liess. Den Koffer stellte sie rollend neben sich ab, zückte ihre Sonnenbrille in der Jackie O-Form aus ihrer Handtasche und setzte sie auf die Nase. Ihre Haare lockerte sie und krempelte die Jeansjacke an ihren Armen hoch. Kurz überprüfte sie ihr Handy, das allerdings den Akku leer hatte. „Na toll!" Die Sonne schien, der Himmel war blau. Mit der Hand schützend an die Stirn schaute sich Jenny in der Menge um. Eine Reihe gelber Taxis stand in der Schlange. Nach und nach fuhr ein Taxi mit Touristen an ihr vorbei. Jenny steckte ihre zwei Finger in den Mund und liess es wie einen Pfiff hören. Schon war ein Taxi mit einem Afroamerikaner zur Stelle. Der Mann war etwas älter als Jenny und freundlich. Er half ihr mit dem Koffer und fragte nach dem gewünschten Ziel. Jenny nannte ihm die Adresse des Hotels, wo sie ihren ersten Aufenthalt verbrachte. „Sehr gerne, hübsche Frau!", sagte der Mann, als er den Motor startete und mit einem lauten Auspuff davon fuhr. Während der Fahrt sang der Mann zu dem Song, das im Radio lief. Jenny hörte interessiert zu und schwelgte dabei in Erinnerungen. Nun kamen sie am Hotel an und beim Aussteigen kam Jenny sofort das Bild mit dem Motorrad und dem Fahrer mit dem schwarzen Helm in Erinnerung. Hier bin ich Paul zum ersten Mal begegnet, nichtsahnend, dass hinter dem Helm ein wunderschönes Lächeln versteckte. Der Taxifahrer legte sanft seine Hand auf Jennys Schulter, als diese immer noch auf die Stelle starrte, an der sie fast in den Motorrad mitsamt Paul rein gelaufen war. „Ist alles in Ordnung?" Jenny wurde in die Realität zurückgeholt, sie sah die besorgende Blicke des Mannes und schob die Sonnenbrille durch ihre Haare und nickte. Sie gab ihm das Fahrgeld und ein grosszügiges Trinkgeld. Nachdem das Taxi davonfuhr, ging Jenny mit dem Koffer auf den Eingang des Hotels zu. Nun war sie wieder hier, an dem bezaubernden Ort, wo sie den schönsten Sommer ihres Lebens hatte und der Weg sie zu Paul führte, der fortan ihr Leben auf den Kopf stellte, in Santa Monica, Kalifornien...

California - The Endless SummerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt