,,Wie alt ist der letzte Schnitt?", wiederholte sie ihre Frage, während sie mit der Nadel und einigen Behältern herumhantierte. Ich schloss die Augen und versuchte mich zu erinnern, während ich am Liebsten trotz geschlossener Augen weggesehen hätte.
Ich wollte mich nicht an die Tage vor meinem Versuch erinnern.
,,Ein paar Tage", antwortete ich einfach und öffnete meine Augen wieder.
Frau Jaske musterte mich kritisch:,,Dein Versuch war vor zwei Wochen, da reichen mir 'ein paar Tage' nicht als Antwort".
Ich sah sie verwirrt an. ,,Mein Versuch war vor einer Woche, nicht vor zwei", stellte ich klar.
,,Nein, vor zwei Wochen", sie drehte sich um und zeigte auf einen Kalender, ,,Dein Versuch war vor zwei Wochen. Du lagst eine Woche im künstlichen Koma."
Ich schüttelte den Kopf. Es ergab keinen Sinn. Oder doch?
Wage Erinnerungsfetzen kamen mir in den Sinn. Irgendwas hatte man mir im Krankenhaus gesagt. Aber ich hatte da nicht zugehört gehabt. In meinem Kopf war nur Wut, Angst und Verzweiflung gewesen als ich aufgewacht war.
Das einzige was ich noch genau wusste waren die Worte des Arztes. Er hatte mich hierher gebracht. Scheiß Arzt. Scheiß Maschinen. Scheiß Koma.
Wieso hatte man mich nicht sterben lassen?
,,Weißt du eigentlich wie knapp dein Versuch war?", ich spürte erneut einen kurzen Schmerz als Frau Jaske die Nadel entfernte.
,,Er war lächerlich", entgegnete ich stumpf und wollte meinen Ärmel über den Arm ziehen.
Aber sie stoppte mich:,,Dein Versuch hätte fast geklappt, Maximilian. Du bist hier, weil das Krankenhaus gesehen hat, das du es wirklich wolltest und du im Gespräch mit den Ärzten angedeutet hast es wieder zu versuchen."
Ich blinzelte wieder verwirrt. Ich konnte mich auch daran nicht erinnern, aber es klang nach mir.
,,Ich möchte mir jetzt einmal deine Narben ansehen und mit dir darüber sprechen. Du hast doch einige und da sind wir angewiesen einmal alles zu dokumentieren", sagte sie und setzte sich an einen Tisch am Ende des Zimmers vor einem Fenster.
Ich stöhnte auf. Super noch ein Gespräch.
Kurz war ich unentschlossen ob ich einfach gehen sollte oder mich auf den Stuhl vor ihr setzen sollte.
Dann stand ich wütend über mich selbst auf und setzte mich auf den Stuhl. Hast du eine Wahl? Du hast es dir eingebrockt, dann leb jetzt damit!
,,Wann hast du angefangen dich zu ritzen?", fragte sie und holte einen Block aus einer Schublade im Schrank hinter ihr.
,,Vor fünf Jahren", schätzte ich grob ab. Ich war wirklich jung gewesen. Alle anderen Kinder in meinem Alter hatten sorgenfrei ihr Leben gelebt und für mich war es da schob bergab gegangen.
,,Womit?", fragte Frau Jaske weiter.
,,Klingen, Glasscherben...alles mögliche", antwortete ich. Hauptsache Schmerzen. Sie nahm meine Arme und drehte sie im Licht. Ich sah weg. Ich konnte die Narben nicht mehr sehen.
Weiße und rote Linien, die nie wieder verschwinden würden. Ich hatte mir meine scheiß Gedanken wie eine Feder mit Tinte auf den Arm geschrieben, ohne eine Möglichkeit sie je wieder abzuwischen und zu vergessen.
,,Wieso verletzt du dich selbst?", fragte sie. Ich antwortete nicht. Es gab so viele Gründe.
Schmerzen, die alles vertrieben. Auch wenn es nur eine Sekunde war. Ich hatte sie ausgekostet wie ein Ertrinkender einen Atemzug.
Bestrafung. Eine schlechte Note und die Klinge hatte sie mir in die Haut geschrieben um nicht zu vergessen wie dumm ich war.
Selbsthass. Ein dummer Junge, der sowieso nichts im Leben hinbekommt. Der keine Freunde hat, nur Stress in der Familie und unfassbar hässlich ist. Den braucht die Welt eh nicht, also kann er auch tun was immer er will.
Kontrolle. Mein Leben hatte ich nie kontrollieren können. Immer war etwas neues passiert das mich weiter runtergezogen hatte. Hinein in dunkle Gedanken und Schmerzen. Das hatte ich kontrollieren können. Bis es mich kontrolliert hatte.
Der Wunsch zu Sterben. Bevor ich daran gedacht hatte es wirklich zu versuchen war es mein Weg näher zur Erlösung gewesen. Dem Tod war ich Stück für Stück, nein Schnitt für Schnitt, näher gekommen. Bis ich mich getraut hatte es wirklich zu versuchen.
,,Alles", antwortete ich nach einer Weile.
Fast erwartete ich ein 'Was meinst du mit 'Alles'?'. Aber sie schwieg und stellte noch einige weitere Fragen, betastete meine Arme und fuhr über die vernarbte Haut.
,,Wir haben hier ein Stufensystem was Narben und Selbstverletzung angeht. 1 ist sehr gering und 5 sehr hoch. Ich würde dich bei 4 einordnen. Hättest du damit ein Problem?", fragte sie am Ende.
Ich schüttelte den Kopf und zog endlich meinen Hoodie wieder über die Arme und atmete tief durch.
Von wegen meine Narben waren schlimm. Wenn ich bei 4 war konnte ich ja noch austesten was Stufe 5 war.
Verstand Frau Jaske eigentlich das es einen noch mehr anheizte es wieder tun zu wollen? Vermutlich nicht.
,,Du kannst jetzt wieder gehen. Deine Ergebnisse bekommst du in der Therapie", sagte Frau Jaske und sofort stand ich auf und ging einfach.
Nur weg hier.
Ich rieb mir den Arm und lief den Flur zu meinem Zimmer entlang. Zwei Wochen.
Ich hatte bis vorhin wirklich gedacht mein Versuch wäre nur eine Woche her.
Wieso wusste ich nichts von meinem Koma?
Wieso wusste ich nichts von einem Gespräch?
Ich hatte schon wieder die scheiß Kontrolle verloren.
Am liebsten hätte ich schon wieder geheult. Heulsuse!
Aber wie konnte man sowas nicht mitbekommen?
Wie konnte man die Kontrolle noch mehr verlieren?
Ich hatte sie verloren, deswegen war ich doch erst krampfend zusammengebroch.
Deswegen war der Krankenwagen gekommen.
Deswegen war alles weiß gewesen.
Deswegen war ich hier.
Ich betrat mein Zimmer und legte mich auf mein Bett.
Ich war müde und gleichzeitig hellwach.
Es gab einen Teil in meinem Leben von dem ich keine Ahnung hatte. Von dem ich nur Erinnerungsfetzen hatte.
Ich wusste wie ich aufgewacht war, aber nicht was dann passiert war.
Der Gedanke daran machte mir Angst.
So eine scheiß Angst, dass sich meine Brust zusammenzog und ich kurz glaubte daran zu ersticken.
Aber selbst den Gefallen tat mir mein Leben nicht.
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Psychiatrie - Mexify
Fanfiction,,Bevor ich an meinen Gedanken sterbe, beende ich es lieber selbst" Nach einem gescheiterten Suizidversuch wird der 17.jährige Mexify in die Psychiatrie eingewiesen. Man will seine Psyche in den Griff bekommen, aber für Mexify scheint es nur noch ei...