Ich setzte mich auf dem gepolsterten Stuhl nieder und musterte den braunen Teppich unter mir. Er war immernoch genauso hässlich wie beim letzten mal.
Frau Ohle ließ sich gerade auf dem Schreibtischstuhl mir gegenüber nieder und startete den Computer. Währenddessen sortierte sie einige Mappen auf ihrem Schreibtisch und lächelte mir kurz zu. Doch ich erwiderte es nicht.
Gerade hingen meine Gedanken nicht bei ihr, sondern bei Rezo. Ob er schon bei seiner Familie war? Frau Ohle war etwa fünf Minuten nachdem Rezo gegangen war eingetroffen und hatte den Raum gerade erst aufgeschlossen.
,,Wie gehts es dir denn mitlerweile hier?", fragte sie in dem Moment und tippte etwas auf dem Computer ein.
,,Gut", antwortete ich einfach und sah aus dem Fenster hinter ihr. Es hatte zu regnen begonnen. Dicke Tropfen schlugen gegen die Scheibe und der Wind ließ die Baumkronen tanzen.
,,Ich möchte heute mit dir über Freundschaften reden, die du hier geschlossen hast", Frau Ohle schlug eine rote Mappe auf und blätterte darin herum. Wie passend.
Ich beobachtete sie dabei, wie sie ungeschickt ein Blatt Papier aus der Mappe nahm und es mir zusammen mit einem blauen Kugelschreiber zuschob. Wenig interessiert beugte ich mich vor und musterte das Blatt Papier. Es war eine Tabelle mit fünf Zeilen und drei Spalten.
,,Ich möchte, dass du einmal alle Freunde einträgst, die du bisher hier gefunden hast", erklärte die Psychologin und tippte auf das Papier. Was geht Sie das an?
Dennoch griff ich nach dem Kugelschreiber. Und wenn ich es nicht tue? Bringen Sie mich dann auf 2?
Gerade als ich den ersten Namen auf das Papier schreiben wollte, ergänzte Frau Ohle:,,Achja und bitte in den Reihenfolge wie wichtig dir die Freundschaft zu der Person ist." Irritiert ließ ich den Kugelschreiber wieder sinken. Wie wichtig mir die Freundschaften waren? Sollte ich jetzt ein Ranking erstellen? Nachdenklich betrachtete ich das weiß des Papiers.
Rezo. Er war der erste, der mir in den Kopf kam, als ich darüber nachdachte. Auch wenn ich Julien genauso lange kannte wie ihn hatte ich immer das Gefühl gehabt, dass uns irgendwas verband. Er war fast wie ein Spiegelbild für mich, auch wenn wir so verschieden waren. Bei ihm hatte ich von Anfang an das Gefühl, dass ich jemanden hatte, der zumindest einen Teil von mir verstand.
Ja, wenn ich einen hier als meinen besten Freund ansehen musste, dann vermutlich Rezo. Erneut setzte ich den Kugelschreiber an und schrieb "Yannik" in die erste Zeile.
Yannik. Es war merkwürdig Rezo so zu nennen. Zwar hatte ihn die Pfleger immer wieder so genannt, doch so wirklich wollte der Name nicht zu ihm passen. Ich wandte mich der zweiten Zeile zu.
Julien. Es war fast wie ein stummer Gedanke, der sich sofort in meinen Kopf schob. Ich kannte Julien genauso lange wie Rezo. Er war immer für mich da gewesen, vielleicht nie so präsent wie Rezo, doch er hatte mich von Anfang an so akzeptiert wie ich war und mich immer versucht aufzumuntern. Julien war derjenige, den man nicht immer wahrnahm, doch dessen Anwesenheit unabdingbar war. Ich schrieb seinen Namen in die Zeile und wandte mich der dritten zu.
Felix oder Rewi? Die Antwort fiel mir schwer.
Ich kannte Felix länger als Rewi und hatte mir sogar ein Zimmer mit ihm geteilt, doch so wirklich gute Freunde waren wir nie geworden. Wir lachten, unterstützten uns, doch mehr als gute Freunde waren wir nie gewesen.
Mit Rewi hingegen verbanden mich unsere beiden Geheimnisse. Rewi, der vor meinen Augen zusammengebrochen war und ich, dessen Schnitte er verheimlicht hatte. Rewi hatte ohne zu zögern mein Zimmer nach Klingen durchsucht und sich nicht von mir abgewand, als ich mich geritzt hatte. Dennoch fiel es mir schwer Rewis Namen schließlich in die Zeile zu schreiben und Felixs in die vierte zu packen. Es schien Felix gegenüber nicht fair, doch am Ende kam ich mit seinen Stimmungsschwankungen weniger klar als mit Rewis Wutausbrüchen.
Ich wandte mich der letzten Zeile zu. Am liebsten hätte ich sie frei gelassen. Doch sicher würde Frau Ohle mich ansonsten dazu drängen doch noch einen hinzuzufügen.
Taddl. Es war der erste Namen, der mir in den Sinn kam. Ich verdankte ihm eine Menge. Er hatte zuerst mit mir über sich geredet und mich von Anfang an so angenommen, wie ich war. Von ihm hatte ich Zigaretten und gute Ratschläge bekommen. Nur um ihn am Ende auszunutzen und zu verraten. Wenn ich jemandem hier etwas schuldig war, dann ihm. Langsam schrieb ich seinen Namen in die Zeile. Es fühlte sich falsch an. Taddl sollte mich hassen. Stattdessen bezeichnete ich ihn als einen meiner fünf besten Freunde hier.
Aber die anderen Möglichkeiten waren nicht besser. Mit Ardy hatte ich nie so viel geredet, mit Luna noch weniger. Patrick war nett, doch außer bei der Sporttherapie hatten wir nie geredet. Antonia war ebenfalls nett, doch mit ihr hatte ich noch weniger zu tun. Simon war schon lange weg und ansonsten kannte ich hier niemanden gut genug um ihn ansatzweise als meinen Freund zu beschreiben.
Ich ließ den Kugelschreiber sinken und schob das Papier zu Frau Ohle zurück. Dabei musterte ich erneut meine Auswahl. War es überhaupt fair seine Freunde zu sortieren?
Ich verdankte jedem von ihnen so viel, dass es nicht fair schien. Jeder von ihnen würde niemals meinen Namen auf einen solchen Zettel schreiben. Und wenn sie es eben doch taten, aus Höflichkeit, war es am Ende dennoch eine Lüge. Sie schuldeten mir keinen Namen auf diesem Zettel. Ich hatte nicht einen von ihnen verdient.
Keinen von ihnen hatte ich fair behandelt, hatte sie alle belogen und ausgenutzt. Ich war kein guter Freund, nur der, der dabei war, weil er sie nicht loslassen wollte. Sie gaben mir so viel, ließen sogar Hoffnung in mein Leben und ich erstickte diese Flamme mit meinem Egoismus.
Frau Ohle nahm das Blatt an sich und überflog die Namen.
Keiner der Namen verdient meine Anwesenheit , aber das wissen Sie nicht. Sie wissen nicht, was für ein schlechter Freund ich bin. Und das, wo ich ohne keinen von ihnen irgendwie den Mut hätte weiter zu kämpfen...
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Psychiatrie - Mexify
Fanfiction,,Bevor ich an meinen Gedanken sterbe, beende ich es lieber selbst" Nach einem gescheiterten Suizidversuch wird der 17.jährige Mexify in die Psychiatrie eingewiesen. Man will seine Psyche in den Griff bekommen, aber für Mexify scheint es nur noch ei...