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Ich betrachtete die Schnitte an meinem Arm und das Blut, das sich auf ihnen sammelte. Einige waren von mehreren kleinen Blutstropfen bedeckt, während andere bereits auf die graue Bettdecke tropften.
Der Schmerz hatte meinen Arm betäubt und dennoch brannte jeder einzelne von ihnen. Ich legte die Klinge auf die Fensterbank und den Zigarettenstummel daneben.
Nachdenklich musterte ich mein Werk und drehte meinen Arm. Es waren viele Schnitte geworden. Einige voll Traurigkeit, einige voll Wut und andere voll Selbsthass. Aber jeder einzelne war eine weitere Erinnerung daran, dass ich nicht auf diese Welt gehörte.
Gedankenverloren ließ ich meinen Blick durch das Zimmer schweifen, dann griff ich ich meine Hosentasche und zog mein Handy hervor. Ich musterte mein Spiegelbild auf dem kaputten Display, dann schaltete ich es ein und legte es neben mir auf die Decke.
Ungeschickt stand ich auf und ging zu meinem Koffer. Ich öffnete ein Nebenfach und lehnte meine Zimmertür an.
Meine Mutter hatte es mir verboten sie zu schließen, auch wenn sie es warscheinlich gar nicht merken würde.
Ich griff in das Fach und zog den kleinen Zettel mit der Telefonnummer von Rezos Eltern hervor. Damit ging ich zu meinem Bett zurück und setzte mich im Schneidersitz darauf. Dann betrachtete ich die Nummer und überlegte erneut.
Wieso wollte ich sie überhaupt anrufen? Rezo war tot und mehr als das brauchte ich nicht zu wissen. Aber etwas anderes hatte ich sowieso gerade nicht zu tun.
Ich griff erneut nach meinem Handy und öffnete das Tastenfeld zum Telefonieren. Unsicher gab ich die Nummer ein, dann zündete ich mir eine neue Zigarette an und betrachetete die Nummer auf meinem Display. Vermutlich war es das erste mal, dass ich selbst jemanden anrufen würde.
Kurz entschlossen drückte ich auf den grünen Hörer und wartete. Ich zog an der Zigarette und hörte dem leisen Ton zu, der verriet, dass die Nummer gewählt wurde.
Vielleicht gingen sie gar nicht ran? Oder sie waren genau wie meine Eltern und dieser Anruf war sinnlos. Aber warum sollten sie mir dann die Nummer gegeben haben?
,,Katarina Sieger", meldete sich eine Frauenstimme und ich griff sofort nach meinem Handy. Doch dann stockte ich. Was sollte ich sagen? Fieberhaft überlegte ich.
,,Hallo?", fragte die Frauenstimme leicht verwirrt.
,,Äh hallo", stammelte ich unsicher und legte die Zigarette auf die Fensterbank, ,,Hier ist Mexify, ähm also Maximilian und ich-"
,,Ach Mexify", die Stimme der Frau nahm einen freundlichen Unterton an, ,,Mexify aus der Klinik?"
,,Äh ja", ich nickte und hätte mich am liebsten selbst geohrfeigt. Wow, im telefonieren war ich auch noch schlecht.
,,Wie schön das du anrufst", die Frau schien sich auf einen Stuhl zu setzen und atmete tief durch, ,,Ich war mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob du dich melden würdest. Aber ich dachte mir, da Yannik so viel von dir erzählt hat, das du vielleicht mal über ihn reden möchtest." Man merkte ihr an wie schwer es ihr fiel Rezos Namen ausszusprechen und das sie sich zusammenreißen musste die Erinnerungen zuzulassen.
,,Er hat von mir erzählt?", fragte ich perplex und kniff genervt die Augen zusammen. Man, reiß dich zusammen!
Aber Rezos Mutter antwortete sofort:,,Ja. Das erste mal hat er mir von dir erzählt, als du gerade mal eine Woche da warst glaube ich. Er hat von einem neuen Jungen erzählt und das Julien und er gerade versuchen eine Freundschaft aufzubauen. Und das letzte mal hat er in der Familientherapie von dir erzählt..." Sie atmete tief durch und ich hörte wie sie kämpfen musste.
Der Tag an dem er gestorben ist. Ich spürte wie die Erinnerungen an jenen Tag sich in meinen Kopf schoben und ich schlucken musste.
,,Er hat viel von eurer Freundschaft erzählt, das ihr viel lacht und er ehrliche Gespräche mit dir führen kann...", wieder musste sie abbrechen und tief Luft holen. Wir waren beide nicht ehrlich... Ich spürte wie sich Tränen in meinen Augen bildeten. Wir haben uns beide belogen...
,,Da dachte ich wirklich, dass es ihm besser geht, weißt du", ihre Stimme began zu zittern und man hörte den Schmerz heraus, ,,Und dann bin ich nach Hause gefahren, nur um Abends von der Polizei aufgesucht zu werden, die mir sagt, dass er tot ist."
Sie schluchzte leise und ich spürte wie ich eine Gänsehaut bekam. Ich hatte meinen besten Freund verloren, doch diese Frau hatte ihren Sohn verloren.
,,Ich war dabei", hob ich zögernd an und spürte wie eine Träne über mein Gesicht lief bei der Erinnerung, ,,Ich hab vor der geschlossenen Badezimmertür gestanden und alles versucht um hineinzukommen."
Ich spürte wie sich die Traurigkeit wie ein Stein auf meine Brust legte und ich mich bemühen musste meine Stimme ruhig klingen zu lassen:,,Ich hab wirklich alles versucht um ihn zu retten."
Ich kniff die Augen zusammen, während eine weitere Träne über mein Gesicht lief und sich die Bilder jenes Tag vor mein Gesicht schoben. Die Schreie, die Verzweiflung, die Angst. Ich habe ihn nicht retten können.
,,Ich weiß", Rezos Mutter atmete wieder tief durch, ,,Einer der Pfleger hat es mir erzählt und wie nahe ihr euch standet." Ich nickte, aber schwieg. Eine weitere Träne tropfte auf das Display und ich wischte sie achtlos fort.
,,Yannik war immer ein so lebensfroher Junge", began seine Mutter wehmütig, ,,Er hatte so viele Freunde, war gut in der Schule und hat sich immer für jeden eingesetzt. Ich verstehe einfach nicht, wieso er entschieden hat nicht mehr leben zu wollen." Sie schluchzte wieder leise und ich musste erneut schlucken.
Nie hätte ich gedacht, dass mich dieses Gespräch so mitnehmen würde. Vielleicht auch deswegen, weil meine Mutter ganz anders war. Sie verstand es genauso wenig, doch ich war ihr nie so wichtig gewesen wie Rezo ihr gewesen sein musste.
,,Ich dachte, du könntest mir diese Frage beantworten", ihre Stimme zitterte und man merkte ihr an, wie schwer es ihr fiel diese Frage zu stellen.
Ja, wieso hatte Rezo sich das Leben genommen? Wie erklärte man es jemandem, der keine Ahnung hatte, wie der Kopf dachte und das Herz fühlte? Wie erklärte man, dass man nicht mehr leben wollte? Ich schloss erneut die Augen und überlegte einen Moment.
,,Ich glaube Yannik hat es wirklich versucht", hob ich zögernd an und spürte erneut wie meine Stimme zu zittern began. Nein, es gab keine Worte um zu erklären, wieso Rezo gegangen war. Man musste es fühlen um es zu wissen. Und selbst dann war es nicht in Worte zu fassen.
,,Ich weiß nicht, wieso er es entschieden hat", flüsterte ich schweren Herzens, ,,Tut mir Leid." Tut mir Leid... ich kann Ihnen nicht die gewünschte Antwort geben. Niemand kann das. Es versetzte mir einen Stich das zu sagen und ich mustere meine blutverklebten Arme. Suizidgedanken waren wie Selbstverletzung. Wer es nicht fühlte, würde es nie begreifen.
,,Verstehe", seine Mutter schien sich erneut zusammenzureißen und holte tief Luft, ,,Dann wünsche ich dir trotzdem alles Gute, Mexify." Ich zwang mich zu einem traurigen Lächeln. Dafür war es zu spät.
,,Falls du noch Fragen zu Yannik hast, kannst du dich jederzeit melden", sagte sie und ich hörte die Ehrlichkeit aus ihrer Stimme heraus. Doch ich wusste, dass es nie passieren würde.
,,Danke, tschüss", ich drückte den roten Hörer und starrte auf den schwarzen Display.
Rezo hatte mir alles erzählt, was er mir über sich verraten hat. Ich kannte einen anderen Rezo als die Menschen außerhalb der Klinik, als seine Familie. Und von diesem Menschen sollte ich einfach nie erfahren.
Wie gern ich auch mehr über ihn gewusst hätte, es würde meine Entscheidung nicht ändern. Und dann war es sowieso egal.
Rezo wollte, dass ich ihn so kannte, wie er war. Nicht wie er gerne gesehen werden wollte...

Psychiatrie - MexifyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt