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Ich ließ mich auf den Stuhl fallen und versuchte mir den Hoodie abzustreifen. Er klebte mir so sehr am Körper, dass ich Mühe hatte meine Ärmel zu befreien.
,,Och ne ey", stöhnte ich und zog mit aller Kraft an meinem rechten Ärmel. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bevor ich mich endlich aus dem Hoodie befreien konnte. Verärgert warf ich ihn über die Stuhllehne und fuhr mir über meine nasse Stirn.
Eine kalte Dusche wäre jetzt genau das Richtige.
Mein Blick fiel auf meine Arme. Der Schweiß hatte das verkrustete Blut hell gefärbt und man sah deutlich, dass es sich am weißen Stoff abgerieben hatte. Also konnte ich den Hoodie vermutlich vergessen. Immerhin hatte ich von Außen keine roten Flecken bemerkt, aber der Stoff war vermutlich hinüber und würde sich beim Waschen auf den ganzen Hoodie abfärben.
Der tiefe Schnitt war immernoch blutverklebt. Auch dieses Problem würde eine Dusche lösen.
Ich stand auf und ging zum Schrank. Gerade als ich die Schranktür berührte, hörte ich ein bestimmtes Klopfen ander Tür und ein fragendes ,,Mexi, bist du da?".
Ich spürte wie ich in meiner Bewegung verharrte und einen schnellen Blick auf meinen Hoodie warf. Doch er war zu weit weg.
Fuck. Einfach still sein? Aber in dem Moment öffnete sich die Tür und Rezo steckte seinen Kopf ins Zimmer. Perpelex verschränkte ich die Arme hinter meinem Rücken und versuchte möglichst unbeteiligt zu wirken.
,,Äh, ja. Was gibts?", meine Stimme überschlug sich beihnah und ich ärgerte mich sofort darüber. Wieso redete ich nicht einfach normal? Wieso war ich immer so ein dummer Spast?
,,Ich wollte nur fragen, ob ich zuerst duschen kann oder du lieber willst, weil du vermutlich mehr geschwitzt hast?", fragte er und warf einen mitleidigen Blick auf meinen Hoodie. Mein Herz hämmerte wieder in meiner Brust.
Wie beim Sport. Nur diesmal war es keine Aufregung. Es glich mehr einer erhöhten Anspannung.
,,Klar, kein Problem", dieses mal bemühte ich mich meine Stimme so normal wie möglich klingen zu lassen. Ich warf ihm ein Lächeln zu.
,,Okay, cool", Rezo nickte dankbar, ,,Du kannst nach mir, Julien meint das wäre okay für ihn."
,,Okay", ich nickte ebenfalls. Konnte er jetzt wieder gehen? Ich umschlang meine Finger hinter meinem Rücken und lehnte mich gegen den Schrank.
,,Alles okay?", lachte Rezo und beobachtete mich belustigt.
,,Klar, wieso?", fragte ich und spürte wie mein Herz noch schneller schlug. Jetzt war es mehr eine aufkommende Panik.
,,Du wirkst so komisch", Rezo zuckte lachend mit den Schultern. Wenn du wüsstest...
,,Ich warte auf die Dusche", lachte ich, aber es fiel mir schwer. Die Situation war unbehaglich. Zum einen war mir klar, dass ich mich wie der letzte Idiot verhielt und zum anderen war jede Bewegung, jedes Wort riskant.
,,Okay", zu meiner Erleichterung schien Rezo sich damit abzufinden, ,,Dann will ich mal." Er zeigte Richtung Flur und trat aus der Tür zurück, die wenige Sekunden später zufiel.
Es dauerte noch einige Sekunden, bevor ich es wagte auszuatmen und die Schranktür zu öffnen. Gegen meinen Willen, streifte ich mir den grauen Hoodie mit dem aufgestickten Dino über und ließ mich dann seufzend aufs Bett sinken.
Mein Herz hatte sich allerdings noch nicht wieder beruhigt. Wie ein aufgeregtes Reh, hüpfte es in meinem Brustkorb herum. Es war knapp gewesen. Vielleicht zu knapp.
Ich sah zur Schranktür und verharrte einen Moment.
Was wollte ich? Beziehungsweise; was wollte ich nicht?
Ich wollte versuchen irgendwie etwas aus meinem Leben zu machen. Zumindest gerade. Und ich wollte nicht, dass die anderen meine Schnitte sahen.
Und gleichzeitig wollte ich mir etwas antun und sterben. Vielleicht waren die Gedanken daran gerade nicht so stark wie zuvor, aber sie waren da. Sie würden immer da sein. Aber sie standen im Konflikt.
Leben oder sterben?
Klinge oder Freunde?
Brauchte ich den Schmerz oder das Lachen von Felix?
Brauchte ich Schnitte oder die lustigen Kommentare von Rewi?
Brauchte ich die Sucht oder die Ratschläge von Julien?
Brauchte ich die Bitterkeit oder die Umarmungen von Rezo?
Ich sah auf meine Unterarme, die von meinem Hoodie verdeckt wurden. Wie lange konnte ich sie weiterhin belügen?
Ich spürte wie beide Seiten an meinem schlagenden Herz rissen. Ich kannte die Selbstverletzung. Besser als viele andere. Wahre Freunde, wirkliche Freundschaft, das kannte ich nicht. Aber was ich bisher erlebt hatte, brauchte ich. Ich brauchte es, so sehr wie ich die Klinge brauchte.
Allerdings würde ich nicht beides haben können. Das eine zerschnitt das andere. Brach es einfach.
Ich sah wieder zum Schrank. Dann schloss ich die Augen und atmete tief durch.
War mir der Schmerz oder die Freundschaft wichtiger?
Ich dachte einen Moment darüber nach, bevor ich meine Augen wieder öffnete.
Im Treffen von Entscheidungen war ich vermutlich nie gut gewesen. Hätte ich es an einem anderen Abend versucht, hätte mein Versuch vermutlich geklappt. Hätte ich eine andere Methode gewählt vermutlich auch. Hätte ich mehr Tabletten genommen, vielleicht auch dann. Hätte ich es woanders versucht. Hätte. Hätte. Hätte.
Ich biss mir auf die Lippe und schlug frustriert auf die Bettdecke neben mir. Dieses Ganze "hätte" machte mich irgendwie fertig.
Aber genau bei dem Gedanken wurde ich mit einem mal ruhig und sah wieder zum Schrank. Vielleicht war genau dieses "hätte" mein Problem. Ein Problem, das ich nicht brauchte. Weil ich die scheiß Vergangenheit nicht ändern konnte. Nur das Jetzt. Und wenn ich jetzt einen Fehler machte, dann würde ich ihn tun. Ich hatte genug gemacht. Einer mehr oder weniger war da auch egal.
Entschlossen stand ich auf und wühlte unter meinen Hoodies, bis ich die Klinge fand. Ohne sie wirklich zu beachten, schloss ich sie in mein Handgelenk ein und ging zur Zimmertür. Ich öffnete diese und trat auf den Flur. Mit schnellen Schritten ging ich in Richtung des Speiseraumes.
Mit jedem Schritt hatte ich das Gefühl, dass sowohl Sicherheit, als auch Zweifel nach mir griffen. Beide streckten ihre Hände nach mir aus um an mir ziehen. Aber ich ignorierte beides.
Gerade traf ich meine Entscheidung, unabhängig von meinen Gedanken.
Ich betrat den Speiseraum und steuerte ohne weitere Gedanken einen der Mülleimer an. Ich wusste, dass, wenn ich jetzt zögerte, alle Hoffnung verloren war. Hoffnung für meine Entscheidung.
Und deswegen schmiss ich die Klinge ohne zu zögern hinein, auch wenn meine Hand sich bis zum Schluss verzweifelt an mein Stück Flucht aus der Wirklichkeit klammerte.

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Wer traut sich seine Klingen jetzt auch wegzuwerfen? :)

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