Ich holte tief Luft, dann hob ich den Kopf und betrachtete mein Spiegelbild.
Am liebsten hätte ich den Blick sofort abgewandt, doch ich zwang mich weiter mir selbst in die Augen zu sehen. In diese blassblauen Augen, die immer mehr von einem dunklen Schatten überzogen wurden.
Sie wirkten so leer, als hätte ihnen jemand ihre Farbe entzogen und nur eine farblose Hülle zurückgelassen. Die Augenringe darunter waren auch nicht besser. Sie stachen so deutlich hervor, dass ich mir bestürzt darüber strich.
Hinzu kamen die viel zu langen Haare, die mir in krausen matten Strähnen ins Gesicht fielen. Ich sah viel schlimmer aus, als meine Fensterspiegelung.
Aber was hatte ich erwartet? Entschlossen griff ich zu dem elektrischen Rasierer, den Frau Meier mir auf den Rand des Waschbeckens gelegt hatte.
Für einen Moment hatte ich überlegt ihn irgendwie auseinanderzubauen um an irgendwelche Klingen zu gelangen. Doch der Gedanke war leider sinnlos.
Ich musterte das schwarze Gerät, dann sah ich wieder zu meinem Spiegelbild und strich mir noch einmal durch die Haare.
Als Kind hatte ich sie geliebt. Der hellbraune Farbton, den Haarschnitt und wie sie zu mir passten. Doch das war Vergangenheit.
Ich schaltete den Rasierer ein und setzte ihn am meiner Stirn an. Das leise Brummen hallte durch das kleine Bad und ich schloss die Augen.
Rezo hatte meine Haare gemocht. Aber er ist tot, Mexi. Jetzt mag sie keiner mehr.
Entschlossen öffnete ich meine Augen wieder und schob den Rasierer durch meine Haare zum Hinterkopf. Mehrere dicke Haarbüschel fielen über meine Schultern zu Boden und ich musterte mein Werk.
So wie ich gerade aussah, gehörte ich eindeutig hier her. Also setzte ich den Rasierer erneut an und zog eine zweite Linie. Wie dicke Schneeflocken fielen immer mehr Strähnen auf den Boden und legten sich wie eine Decke um mich.
Mit jedem mal, den ich den Rasierer ansetzte, spürte ich ein leichtes Ziehen in der Brust. Die Entscheidung war mir nicht leicht gefallen. Ich hatte zwar nie etwas besonderes aus meiner Frisur gemacht und die matten Haare waren mir irgendwann lästig geworden, doch sie jetzt abzurasieren ließ mich immer fremder aussehen.
5 Millimeter. Wieso ich mich genau dafür entschieden hatte, konnte ich nicht sagen. Vielleicht hoffte ich irgendwie an einem letzten Stück Vergangenheit festhalten zu können. An Rezo...
Wieder hielt ich inne und seufzte. Wie sollte ich nur ohne ihn weitermachen? Jeder Tag verging so schleppend, als hätte man der Zeit einen Stein umgebunden, den sie fortan mit sich trug. Immer wieder überfielen mich Gedanken und Erinnerungen.
Doch am schlimmsten waren die Schmerzen. Keine physischen, eher die Schmerzen, die sich in mein Herz fraßen. Schmerzen, die jedem Schnitt mit der Klinge Konkurenz machten.
Wieder setzte ich den Rasierer an und beobachtete wie weitere Haare zu Boden fielen. Ohne meine Haare wirkten meine Augen viel heller und die Augenringe schienen noch deutlicher hervorzustechen.
Ein letztes mal fuhr ich mir mit dem Rasierer über den Kopf und ließ diesen dann sinken. Nachdenklich musterte ich mich. Ich sah so fremd aus, dass es mir schwer fiel mich selbst in meinem Spiegelbild zu erkennen.
Irritiert fuhr ich mir über die viel zu kurzen Haare und drehte meinen Kopf. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte zu beurteilen, was ich von meiner Entscheidung halten sollte. Wirklich besser sah ich damit nicht aus, aber damit hatte ich auch nicht gerechnet.
Ich schaltete den Rasiere ab und legte ihn zurück auf die Ablage über dem Waschbecken. Dann fuhr ich mir mit beiden Händen über den Kopf und verschränkte sie hinter meinem Kopf.
Ich konnte meinen Blick nicht von dem Jungen mir gegenüber abwenden. Da waren die viel zu kurzen Haare, die traurigen Augen, die Augenringe, ein blasses Tshirt, das ihm viel zu locker von den Schultern hing, die unzähligen Narben an den Armen und die hervorstechenden Knochen unter der Haut. Jetzt sehe ich eindeutig psychisch krank aus.
Durch den fast kahlen Kopf wirkte mein Gesicht deutlich älter. Als wäre Rezo schon seit Jahren tot... Ich biss mir auf die Lippen. Doch meine Entscheidung bereute ich nicht.
Stattdessen musterte ich die Haarsträhnen auf dem Boden. Sie wirkten wie die Scherben meines Herzens, die ich achtlos auf den Boden geworfen hatte. Mein Herz ist gebrochen, dann brauche ich auch keine Scherben, die zusätzlich schmerzen.
Rezo hätte diese Metapher sicher gefallen. Tja, aber er ist tot und wird nie wieder eine Metapher hören. Du hast es nicht verhindern können, also denk auch nicht weiter dran.
Ich wandte den Blick von meinem Spiegelbild ab und öffnete die Badezimmertür. Frau Meier lehnte an der Wand gegenüber und sah neugierig auf.
Für einen Moment wirkte sie überrascht, dann lächelte sie:,,Sieht gut aus, Maximilian." Na sicher.
Aber ich schwieg nur und ging an ihr vorbei in Richtung meines Zimmers.
Zum ersten mal hatte ich nicht den Drang mir meine Kapuze über den Kopf zu ziehen. Es gab nichts, was ich verstecken konnte. Und das wollte ich auch nicht mehr. Jeder wusste, was ich getan hatte, was ich fühlte und dachte.
Hier gibt es keine Geheimnisse. Und vielleicht war das auch besser so. Geheimnisse hatten mich mehr verletzt als jede Klinge.
Ich blieb vor meiner Zimmertür stehen und öffnete diese. Dann betrat ich den Raum und schloss die Tür hinter mir.
Erst dann ließ ich mich an der Wand zu Boden sinken und schlug die Hände über meinem Kopf zusammen. Du musst ohne Rezo leben, Mexi. Akzeptier es einfach.
Aber ich schüttelte nur den Kopf. Ich musste aufhören mich selbst zu belügen. Denn es gab nur eine Wahrheit: Ich hatte nicht die Kraft ohne ihn zu leben. Die Kraft zu kämpfen, wissend, dass ich nie glücklich werden würde. Die Kraft es einfach zu versuchen.
Ich bin am Ende. Und es war mir egal, ob man es mir jetzt ansah oder nicht.
Ich bin wie ich bin. Es wird sich nie etwas ändern. Mit jedem Tag wird die Welt grauer und verschwimmt. Die Gedanken übernehmen meinen Kopf und ich habe keine Kraft mich dagegen zu wehren. Für mich gibt es nichts für das ich noch kämpfen muss... nichts für das ich noch kämpfen kann... sorry Rezo...
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Psychiatrie - Mexify
Fanfiction,,Bevor ich an meinen Gedanken sterbe, beende ich es lieber selbst" Nach einem gescheiterten Suizidversuch wird der 17.jährige Mexify in die Psychiatrie eingewiesen. Man will seine Psyche in den Griff bekommen, aber für Mexify scheint es nur noch ei...