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Wohin geht man, wenn der Wind umschlägt?
Ein dämliches Zitat.
Das Gedicht aus dem es stammte, hatte ich in der Schule interpretieren gemusst. Keine spannende Aufgabe, aber irgendwie verstand ich erst jetzt die Bedeutung dahinter.
Wohin geht man, wenn der Wind umschlägt? Sich das Boot gefährlich zur Seite legt, die Wellen stärker um mich schlagen, bleibt mir nur eins zu fragen: Wohin geht man, wenn der Wind umschlägt?
Das Gedicht war sinnlos, keine Frage.
Aber gleichzeitig schien es meine Gefühle treffender als jedes Wort zu beschreiben.
Ich ließ meinen Blick auf meinen Arm schweifen. Drei blutige Schnitten zeichneten sich auf der Haut ab und ließen winzige Blutstropfen hervortreten.
Trotz des brennenden Schmerzen, fühlte ich merkwürdigerweise nichts.
Keinen Schmerz.
Keine Ruhe.
Keine Entspannung.
Es war als hätte jemand einen Schalter umgelegt, der mich nichts mehr fühlen ließ, außer der Sinnlosigkeit um mich herum.
Ich hatte mir nichts tun wollen, vor allem nach dem Gespräch mit Rewi. Aber der Tag heute hatte sich so sehr in meinen Kopf gebrannt, dass ich einen Ausweg gebraucht hatte.
Wie ein verdammter Hurensohn war ich nach dem Abendessen ins Zimmer gestürzt, hatte mir die verdammte Klinge gegriffen und sie mir sinnlos über den Arm gezogen.
Dreimal. Und trotzdem war mein Kopf so voller Gedanken, dass kein Schnitt sie zerschlagen konnte.
Erneut griff ich nach der Klinge vor mir und setzte sie an einer freien Stelle an.
Einatmen. Ich holte tief Luft.
Ansetzen. Ich setzte die Klinge auf die Haut.
Durchziehen. Ich zog die Klinge meinen Arm entlang.
Absetzen. Ich setzte die Klinge ab.
Anschauen. Ich betrachtete den frischen Schnitt, der sich immer rötlicher färbte, bis das Blut eine rote Oberfläche gebildet hatte und darunter den Schnitt versteckte.
Ausatmen. Ich atmete aus.
Aber immernoch drang kein Schmerz zu meinem Kopf durch. Wie betäubt brannte der Schnitt sich in meine Haut.
Ich suchte mir eine weitere Stelle und setzte die Klinge an. Wieder zog ich durch und wartete auf den Schmerz. Aber wieder blieb er aus.
Wohin geht man, wenn der Wind umschlägt?
Wieder war da dieses scheiß Zitat. Ich hatte keine Ahnung, wie es so plötzlich in meinen Kopf gekommen war, wenn es nichtmal der Schmerz schaffte. Es brannte sich wie der Schmerz selbst hinein und ließ mir keine Ruhe.
Ich schloss die Augen und seufzte.
Wieso konnte ich nicht einfach glücklich sein? Wieso konnten wir alle nicht einfach glücklich sein?
Wieso konnten wir nicht wie andere Jugendliche auf Partys gehen, nach einem hübschen Mädchen suchen und Abende am See verbringen mit guter Musik?
Ich versuchte mir ein Bild vorzustellen, wie Julien und Rezo mit einem Bier anstießen, während Rewi und Felix angetrunken zu irgendeiner dummen Musik tanzten. Wie wir lachten und unser Leben genossen.
Aber es misslang. Ich öffnete meine Augen wieder und starrte auf meine Schnitte. Uns ist so ein Leben nicht gegönnt. Wir sind da um zu sterben.
Ich spürte wie Wut in mir aufstieg. Eiskalte Wut.
Wieso können wir nicht einfach glücklich sein?! Wieso traf es mich? Was hatte ich im Leben falsch gemacht? Wieso hatte ich es verdient so zu sein?
Ich griff nach der Klinge und zog sie unachtsam durch. Zum ersten mal schoss Schmerz durch meinen Arm, aber ich setzte sie wieder an und zog erneut durch. Wieso fühle ich nichts?!
Wieder setzte ich an und zog das Metallstück über meinen Arm, bis der Schmerz mich zurückzucken ließ und ich die Klinge auf den Tisch vor mir schmiss.
Ich spürte wie mir Tränen in die Augen schossen. Der Schmerz war genauso plötzlich, wie heftig gekommem. Mein Arm zitterte.
Ich riskierte einen Blick und betrachtete mein Werk. Die drei frischen Schnitte waren tiefer als die bisherigen. Sie waren so tief, dass sich ein Blutrinnsal bildete und an meinem Arm herunterlief.
,,Scheiße", ich stand auf und sah mich flüchtig in meinem Zimmer um. Aber hier gab es nichts.
Ich zögerte einen Moment, dann drückte ich widerwillig dir Tür zum Flur auf und lief zum angrenzenden Badezimmer. Zum Glück war der Flur leer.
Schnell drehte ich das Schild vor dem Bad um und schloss die Tür. Als ich meinen Arm über das Waschbecken hielt, tropften die ersten Blutstropfen von meinem Arm und färbten das Waschbecken mit hässlichen Flecken.
Du bist so dumm, Mexify! Kaum bist du wütend schneidest du zu tief!
Ich hätte meinen Kopf am liebsten gegen die Wand geschlagen. Wie konnte man so dämlich sein?
Zuhause wäre es kein Problem gewesen noch tiefer zu schneiden, aber hier musste ich aufpassen.
Ich drehte den Wasserhahn auf und hielt meinen Arm darunter. Sofort zuckte ich zurück und zwang mich dennoch meinen schmerzenden Arm unter das kühle nass zu halten.
Es tut weh. Wieder schossen mir Tränen in die Augen. Aber nicht wegen dem Schmerzes.
Es tat weh es wieder getan zu haben. Es tat weh es niemandem sagen zu können. Es tat weh so viel zu fühlen, dass ich es wieder getan hatte. Es tat weh meine Freunde anzulügen. Es tat weh am leben zu sein.
Ich starrte auf das rötliche Wasser. Aus dem letzten Schnitt quoll immernoch Blut hervor. Nicht viel, aber genug um mein schlechtes Gewissen zu steigern.
Nicht weinen. Ich fuhr mir mit dem linken Arm über die Augen. Jetzt reiß dich verdammt nochmal zusammen!
Aber ich wollte weinen. Ich wollte jemanden, der mich in den Arm nahm und mir sagte, dass alles gut werden würde. Ich wollte jemanden, der einfach da war und mir sagte, dass alles gut werden würde.
Eine Träne lief über mein Gesicht. Sofort wischte ich sie weg. Gott, wie schwach ich war!
Ich stellte das Wasser ab und betrachtete meinen Arm. Nun hatte ich es also wieder getan.
Auf dem tiefsten Schnitt bildeten sich neue Blutstropfen und erneut stiegen mir Tränen in die Augen.
Wofür hatte ich es verdient so zu sein? Wieso musste ich fühlen, was ich fühlte?
Eine weitere Träne tropfte in das Waschbecken.
Wieso ging es mir so scheiße? Wieso konnte ich nicht glücklich sein?

Psychiatrie - MexifyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt