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Ich lehnte mich an Rezos Schulter und schloss die Augen. Genoss, wie sein ruhiger Herschlag meinen Körper erfasste und sich mein Herz seinem anpasste. Genoss die Stille und seinen Arm, der sich um mich legte. Genoss einfach nur diesen kurzen Moment.
Keine Gedanken, kein Hass, keine Angst, keine Traurigkeit. Es war friedlich. Als würde die Welt für eine Sekunde tief Luft holen und dabei alles auf ihr verstummen lassen. Das einzige, was ich wahrnahm, war sein gleichmäßiger Atem und das Schlagen seines Herzens.
Rewi und Felix waren vor einigen Minuten schlafen gegangen und Juliens leises Schnarchen verriet, dass er bereits eingeschlafen war. Doch ich saß noch immer an Rezo gelehnt und versuchte mehr oder weniger gegen die Müdigkeit anzukämpfen.
Rezos Arm wanderte zu meiner Kapuze und zog sie mir sanft vom Kopf. Dann strich er mir durch die Haare und ließ seinen Arm wieder auf meine Schulter sinken.
,,Woran denkst du?", fragte er leise und sah zu mir herunter.
,,An gar nichts", flüsterte ich ruhig. Und das stimmte. Gerade gab es nichts, außer Rezo und mir. Trotz der Dunkelheit glaubte ich sein kurzes Lächeln wahrzunehmen.
,,Und du?", fragte ich dann, ,,Woran denkst du?"
,,An vieles und nichts", antwortete er leise.
,,Zum Beispiel?", ich drehte meinen Kopf leicht und öffnete die Augen, doch seine Gestalt war nur eine schemenhafte Silhouette in der Schwärze.
,,Nicht jetzt", flüsterte er. Am liebsten hätte ich nachgefragt, aber die Müdigkeit legte sich erneut wie eine schwere Decke über mich. Und ich wollte keine Diskussion beginnen. Lieber wollte ich diesen Moment genießen. Diese Stille, die Ruhe, den Frieden.
Ich hob den Kopf und lehnte mich zurück an dir Wand.
,,Bist du glücklich?", fragte ich, ,,Ich meine, genau jetzt?" Rezo schwieg einen Moment und ich schloss wieder die Augen.
,,Bist du es?", stellte Rezo lächelnd die Gegenfrage. Nein, ich war nicht glücklich. Aber diese Stille, dieser kurze Moment in dem es nur ihn und mich gab, schien dem Glück so nahe zu sein, dass ich es fast hätte greifen können.
,,Ich weiß nicht, was Glück ist", antwortete ich vorsichtig, ,,Aber es ist friedlich."
,,Ich bin froh, dass du noch da bist", Rezo musterte mich in der Dunkelheit. Ich lächelte für einen Moment.
,,Ich auch", flüsterte ich. Und gerade war es fast so, als wäre es einen Moment lang wahr. Wieso fühlte ich gerade, was ich fühlte? Diese Wärme, den Frieden, die Stille, alles.
,,Für den Moment?", fragte Rezo und sprach damit genau das aus.
,,Ja", es lag eine gewisse Traurigkeit in meiner Antwort.
,,Du wirst es wieder versuchen, nicht wahr?", fragte Rezo. Ich musterte ihn.
Ich wollte ihm die Antwort geben, die er hören wollte. Aber wir wollten uns nicht mehr anlügen. Der Gedanke stach wie eine Nadel in den Moment. Aber nur kurz. Zu kurz.
,,Vielleicht", sprach ich die Wahrheit aus und zuckte mit den Schultern. Wieder schloss ich die Augen und ließ die Müdigkeit wie eine Lawine über mich rollen.
,,Was ist mit dir?", fragte ich und unterdrückte ein Gähnen, ,,Wirst du es versuchen?"
Rezo zögerte kurz, schien nachzudenken, dann schüttelte den Kopf:,,Nein. Ich habe genug Versuche hinter mir." Die Antwort überraschte mich ein wenig.
War das Ehrlichkeit? Aber wir wollten uns nicht mehr anlügen und er schien aufrichtig zu klingen.
,,Und Selbstverletzung?", fragte ich vorsichtig.
,,Ich habe genug Narben", antwortete er leise, ,,Meine Arme haben genug erlebt."
,,Meine auch...", ich legte den Kopf in den Nacken und sah zur Decke. Aber da war nur Schwärze.
,,Dann lass sie Frieden finden", flüsterte Rezo.
,,Das kann ich nicht", meine Brust zog sich zusammen, ,,Es ist eine Sucht."
,,Jede Sucht kann man bekämpfen", flüsterte er.
,,Ich weiß nicht wie", wieder schloss ich die Augen und seufzte. Wie sollte ich das ablegen, was seit Jahren mein Ausweg war? Was ich so oft getan hatte, dass es keine Zahlen mehr gab. Was ich nicht mehr verstecken konnte, weil es meine Arme wie ein schlechtes Kunstwerk verzierte.
,,Wir kommen ohne Klingen auf die Welt. Wir können sie auch ohne verlassen", Rezo zuckte mit den Schultern, ,,So hat es Julien mir mal gesagt."
,,Julien", ich lachte leise auf, ,,Was weiß er schon von Klingen?" Ja, auch Julien mochte seine Narben haben, aber er hatte sich nur einmal geritzt. Und das war lange her. Das er davon einige wenige Narben trug, war nicht meine Schuld.
,,Wir werden immer Tiger bleiben", stellte ich fest, ,,Egal was wir tun. Es wird uns immer an all das hier erinnern."
,,Narben verblassen", konterte Rezo, ,,Genauso wie Erinnerungen."
,,Man kann nicht alles vergessen", murmelte ich leise.
,,Aber man kann darüber hinwegsehen", hielt Rezo dagegen, ,,Das jetzt und hier definiert dich nicht. Es kommen bessere Zeiten."
,,Vielleicht", flüsterte ich ohne es wirklich zu glauben.
,,Du bist ein toller Mensch", Rezo starrte in die Dunkelheit, ,,Das wirst du auch noch erkennen."
,,Denke nicht", ich zuckte mit den Schultern.
,,Wir werden dich alle daran erinnern", flüsterte er, ,,Immer und immer wieder."
,,Das ist nett", ich lachte leise. Dann schloss ich die Augen wieder und versuchte dennoch gegen die Müdigkeit anzukämpfen.
,,Wir sollten auch schlafen", schlug Rezo vor. Ich nickte träge und öffnete meine Augen wieder. Dann stand ich auf und rutschte zur Bettkante.
,,Gehts?", fragte Rezo und taste nach dem Nachtlicht über seinem Bett.
,,Ja", ich nickte und stand auf. Nach zwei Schritten spürte ich meine Matratze vor meinen Füßen und ließ mich erleichtert darauf fallen. Rezo stand ebenfalls auf und für einen Moment nahm ich seine Gestalt in der Dunkelheit wahr.
,,Wohin gehst du?", fragte ich müde.
,,Duschen", lachte er leise, ,,Sonst stinke ich morgen beim Kunstangebot."
,,Stimmt", ich musste kurz grinsen, dann schloss ich die Augen und zog die Decke über mich.
,,Schlaf gut", Rezo öffnete die Tür. ,,Du auch später", murmelte ich. Nichtmal die Augen konnte ich mehr öffnen, so sehr lag die Müdigkeit auf mir. Dann fiel die Tür langsam zu und es herrschte wieder Stille.
Das Leben kann so gut sein. Wieso ist es nicht immer so? Langsam holte die Müdigkeit mich vollens ein. Vielleicht kann ich es wirklich irgendwie schaffen. Irgendwie... irgendwie... vielleicht...

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