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Ich stellte mich neben Rezo und musterte interessiert die anderen Patienten, die mit uns vor dem Pflegerzimmer warteten. Außer Julien, Felix, Rewi, Rezo und mir standen noch vier weitere Jugendliche davor und sahen mehr oder weniger erfreut in die Runde.
Keiner von ihnen begrüßte uns wirklich, nur Patrick, den ich damals bei meiner ersten Gruppentherapie neben mir gehabt hatte, nickte uns kurz zu, bevor er sich wieder seinem Gespräch mit einem anderen Patienten zuwandte. Eigentlich wunderte es mich nicht, dass keiner mit jemand anderem sprach.
Die meisten waren wie ich. Schüchtern, in ihrer eigenen Welt oder hatten nichts zu sagen. Ich war immer schon ein stillerer Mensch gewesen als andere. Hinzu kamen wenige Freunde und meine Psyche, die mich schließlich fast stumm gemacht hatte.
Ich hatte es vermieden zu reden, weil es mir sinnlos erschienen war. Mit Worten war ich nicht weitergekommen im Leben. Andererseits war ich das ohne auch nicht.
,,Seid ihr vollzählig?", Mark verließ das Pflegerzimmer und sah erfreut in die Runde, ,,Ich glaube so zahlreich war das Kunstangebot noch nie." Er zählte schnell durch und schloss dann die Stationstür auf.
,,Auf gehts", Rezo setzte sich als erster in Bewegung und ich schloss mich ihm an. Mark ging voran die Treppe hinunter und bog direkt in den nächsten Flur ab.
Sofort schossen mir die Erinnerungen an den Tag in den Kopf, als ich hier zum ersten mal gewesen war. Damals hatten wir Felix abgeholt. Es konnte gar nicht so lange her sein, aber irgendwie schien die Erinnerung wie aus einem anderen Leben zu stammen. Die Zeit rennt.
Ich wandte meinen Kopf zu Felix, der hinter mir ging und Julien gerade etwas zu erklären schien. Er lachte. Damals hatte er nicht so gelacht. Offenbar tat es ihm wirklich gut von der Geschlossenen weg zu sein. Gleiches galt für Rewi. War es gut gewesen, dass ich nicht dort gelandet war?
,,Da sind wir", Mark hielt vor einer Tür und öffnete diese. Das Schild daneben verwies auf einen Kunstraum. Etwas neugierig betrat ich nach Rezo den Raum und musterte ihn verwirrt. Ich hatte ihn mir ganz anders vorgestellt.
Es gab mehrere Holztische, die jedoch von Farbklecksen fast vollständig bedeckt waren und die unzählige Schrammen aufwiesen. Die Stühle waren ebenfalls aus Holz, aber rot angemalt. Auch sie waren von Farbklecksen gezeichnet, wenngleich auch weniger häufig. Zwei der Wände waren mit Schränken zugestellt auf denen Schilder die darin befindlichen Gegenstände, wie "Werkzeug", "Pinsel" oder "Pappe" beschrieben.
Die gegenüberliegende Wand bestand fast vollständig aus einer Fensterfront und war mit bunten Fensterbildern beklebt. Vor den Fenstern standen mehrere Werkbänke. Auf einigen standen kleine Holzschnitzereien und eine halbfertige Tonvase.
Die letzte Wand war mit Bildern behängt, die alles mögliche zeigten. Unter anderem glaubte ich sogar einen Drachen zu entdecken, der verdächtig nach Juliens Zeichnungen aussah. Ebenfalls gab es eine Tür an der Wand, in der ein älterer Mann in kariertem Hemd lehnte und uns freudestrahlend ansah.
,,Willkommen beim Kunstangebot, Station 3!", rief er und ging uns entgegen, ,,Für die, die mich noch nicht kennen: Ich bin Heinz Weschmann." Er sah mit einem breiten Lächeln in die Runde und blieb dann an Rewi hängen.
,,Dich kenne ich dich noch", er zeigte auf ihn und überlegte einen Moment, ,,Sebald, richtig?"
Rewi lächelte zurück:,,Sebastian."
,,Ach richtig", Herr Weschmann klatschte in die Hände und lachte auf, ,,Aber du bist doch der, dem ich letztes mal die Schere abnehmen musste oder?" Man sah Rewi sein Unbehagen an, aber er nickte und versuchte es zu verstecken.
,,Alles gut Junge, längst vergessen", er nickte Rewi aufmunternt zu, bevor er einladend auf die Stühle zeigte, ,,Setzt euch doch."
,,Du hast das im Griff, Heinz?", fragte Mark. Dieser nickte eifrig:,,Immer." Mark nickte und verabschiedete sich, bevor er den Raum verließ und die Tür schloss.
Rezo war der erste, der sich setzte, also setzte ich mich auf den Stuhl neben ihn. Auch die anderen setzten sich und wir beobachteten, wie Herr Weschmann wieder zur Tür ging und erneut in die Runde sah.
,,Eure Namen werde ich noch lernen, aber euch interessiert sicher, was wir heute machen, richtig?", fragte er und sah uns interessiert an.
Irgendwie hatte er etwas sympatisches, das musste man ihm lassen. Trotz seines Alters, der grauen Haare und dem Bart, schien er seine Lebensfreude nicht verloren zu haben. Anders als wir. Aber vermutlich war er genau deswegen hier. Um uns zu zeigen, was aus uns werden konnte.
,,Was machen wir denn?", ergriff Julien das Wort und sah neugierig zu ihm.
Herr Weschmann strahlte noch mehr:,,Heute möchte ich mit euch Freundschaftsarmbänder flechten. Ihr wisst schon, die bunten Bänder, die vorallem Mädchen sich gerne untereinander an den Arm stecken." Ich nickte und sah zu den anderen.
Alle schienen nicht allzu enttäuscht, nur Felix rollte kurz mit den Augen und beugte sich zu Rewi:,,Ich bin doch keine fünf mehr und vor allem kein Mädchen." Rewi grinste kurz, sagte aber nichts.
,,Diese Bänder müsst ihr ja nicht für jemand anderen machen. Macht sie für euch. Die bunten Farben machen doch immer gute Laune, nicht wahr?", fuhr Herr Weschmann fort und drehte sich ohne eine Antwort abzuwarten um. Er verschwand in den Raum hinter der Tür.
,,Freundschaftsarmbänder?", fragte Felix lauter, ,,Weiß ja nicht."
,,Stell ich mir cool vor", Rezo zuckte mit den Schultern, ,,Mal was neues."
,,Stimmt", nickte auch Julien. In dem Moment kam Herr Weschmann mit einem Karton in den Händen wieder und stellte ihn auf den Tisch vor sich.
,,Hier sind alle möglichen Farben Wolle drin", er öffnete den Karton und zeigte uns beispielhaft die rote und hellblaue Wolle, ,,Ihr könnt euch gleich zunächst einige Farben aussuchen. Am besten sind drei, ihr könnt aber so viele nehmen wie ihr wollt. Und dann erkläre ich euch das Flechten." Er sah wieder freudestrahlend in die Runde und zeigte auf den Karton.
,,Bedient euch", er nickte uns aufmunternt zu. Wieder erhob sich Rezo zuerst und ging zum Karton. Ich folgte ihm und stellte mich neben ihn.
Im Karton lagen mehr Farben, als ich erwartet hätte. Neben den normalen Farben, gab es auch immer hellere und dunklere Varianten. Meine Augen wanderten von einer Farbe zur nächsten.
Gleichzeitig spürte ich eine kleine Welle der Traurigkeit über mich kommen. Was ist überhaupt meine Lieblingsfarbe?

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