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,,Guten Morgen, Maximilian", begrüßte Frau Ohle mich, als ich die Tür zu ihrem Büro hinter mir schloss. Den immernoch hässlichen Teppich ignorierend, ließ ich mich auf dem Stuhl ihr gegenüber nieder.
Sie lächelte und musterte mich eine Weile. Erwartete sie nach der gescheiterten Familientherapie eine Erklärung? Falls ja, kann sie lange warten.
,,Ich würde heute gerne über das Gespräch vom letzten mal sprechen, wenn du nichts dagegen hast", fing sie schließlich an. Sofort stöhnte ich innerlich auf.
Ich hatte schon keine Lust auf diese Therapiestunde, aber über dieses dämliche Thema musste ich gerade wirklich nicht reden. Aber ich widersprach auch nicht. Am Ende konnte ich ihm sowieso nicht entkommen.
,,Ich habe noch eine Weile mit deinen Eltern gesprochen nachdem du wegwarst und wir sind uns einig, dass du eine drei monatige Therapie hier bei uns machen solltest. Wir haben nochmal genauer über deine momentanen Diagnosen gesprochen und wollen, dass du hier an einem geschützten Raum daran arbeiten kannst. Was hälst du von der Idee?"
3 Monate. Ich wollte auflachen. Wem wollte sie etwas vormachen? Keiner der Anderen war nur 3 Monate hier gewesen. Rezo war anscheinend sogar schon in der zweiten Klinik.
Hätte sie mir diese Zeitspanne bei meiner Aufnahme genannt, hätte ich vermutlich die letzten Wochen versucht eine Maske aufzusetzen um schnellstmöglich hier raus zu kommen. Und ich könnte es immernoch versuchen. Aber dazu fehlte mir gerade irgendwie die Kraft. Also nickte ich nur ergeben. Auch wenn es eine Lüge war.
,,Gut", Frau Ohle blätterte wieder in ihrer Mappe, ,,Ich wüsste gerne, wie du dich gefühlt hast, als du deine Eltern wiedergesehen hast." Sie sah erwartungsvoll zu mir. Ich zuckte mit den Schultern. Wie sollte ich mich schon gefühlt haben? Unverstanden, unsicher, wütend, traurig. Oder einfach alles zusammen?
,,Scheiße", fasste ich meine Gedanken kurz zusammen. Frau Ohle nickte bestätigend. ,,Woran denkst du liegt das?", fragte sie weiter. Ich sah an ihr vorbei aus dem Fenster zu dem kahlen Baum, der davor stand. Die Frage war dumm.
Meine Eltern hatten mich die letzten Jahre nur angeschrien, mir vorgehalten wie dumm ich war, mich in den Selbstmord getrieben nur um mich am Ende davon abzuhalten. Und trotz allem erkannten sie nicht, dass sie einer der Gründe waren. Einer von vielen. Auch wenn ich es mir manchmal wünschte all die scheiße auf meine Eltern abzustempeln, war es leider nicht so einfach.
"Maximilian, was ist das an deinem Arm? Ritzt du dich etwa?". Es war als hätte sich dieser Satz in meinen Kopf gebrannt. Und er war nicht nur einmal gefallen.
Sie hatten meine Arme nicht oft gesehen, vorallem die letzten beiden Jahre. Aber selbst als sie die ersten frischen Schnitte gesehen hatten, hatten sie nicht begriffen, dass sie einer der Gründe dafür waren. Die wirklich tiefen und schmerzhaften Schnitte kannten sie gar nicht erst.
Sie hatten all die Jahre von meiner Selbstverletzung gewusst und nichts dagegen getan. Mehr oder weniger war ich auch dafür angeschrien worden.
"Maxi, wieso machst du so nen scheiß? Das ist doch echt dumm, meine Güte", hatte mein Vater mir einmal an den Kopf geworfen, als ich im T-Shirt mit frischen Schnitten auf meinem Bett eingeschlafen war und er mich geweckt hatte. Er hatte mir nicht geholfen, nur kopfschüttelnd die Klinge weggeräumt und sich bei meiner Mutter über mich ausgekotzt.
Vielleicht hatte ich es ihnen am Anfang nichtmal übel genommen. Mitlerweile wusste ich, dass Menschen ohne psychische Krankheiten Menschen mit diesen nicht verstanden. Und irgendwo verstand ich es auch. Ich konnte auch nicht alle Menschen verstehen.
Aber meine Eltern hatten es nichtmal versucht. Und vielleicht tat auch genau das nochmal zusätzlich weh.
Mein kindliches Ich hatte immernoch Erinnerungen, wie meine Mutter mir liebevoll eine Geschichte vorlas, damit ich gut einschlief.
Mein Vater hatte mich oft zum Angeln auf einem kleinen See mitgenommen. Wir hatten den ganzen Tag auf einem Holzboot gesessen und Memory gespielt, bis ein Fisch anbiss. Manchmal durfte ich ihn einholen, bei größeren hatte er das gemacht. Dann hatten wir den Fisch angesehen und er hatte ein Foto mit mir und dem Fisch gemacht.
Meist hatten wir ihn danach ins Wasser zurückgesetzt. Aber manchmal, wenn es ein besonders großer war, hatten wir ihn mitgenommen und an einem Lagerfeuer gegessen. Nur wir beide, bei Sonnenuntergang, dem Lagerfeuer und dem See. Mit einem gerösteten Fisch und dem kühlen Sand unter den Füßen.
Ich spürte wie sich Tränen in meinen Augen bildeten bei der Erinnerung.
Warum waren die letzten Jahre nicht auch so gewesen? Alles wäre so einfach gewesen. Wir hätten immernoch zum See fahren können, Fische fangen und Memory spielen können.
Stattdessen saß ich in einer Klinik. Nach einem Suizidversuch. Ich wischte mir über die Augen und wandte das Gesicht ab.
Fuck Mexi, nicht weinen.
Ich kniff die Augen zusammen und wollte mich selbst Ohrfeigen. Meine Mutter und mein Vater hatten mir die letzten Jahre zur Hölle gemacht und taten es immernoch. Ich sollte diese Erinnerungen an schöne Momente vergessen, sie waren nicht die Realität.
Ich ignorierte das Bild meines lachenden Ichs auf dem Boot, dass mir in den Kopf schoss. Der kleine Mexify mit einem Fisch in den Händen, der strahlend in die Kamera sah. Ich schüttelte den Kopf und damit das Bild ab. Es war nicht gut sich daran zu erinnern. Diese Tage waren für immer vorbei und ich wollte mir selbst diese Erinnerungen nicht wieder und wieder antun. Dafür waren sie zu schmerzhaft. Wie konntet ihr dieses kleine Kind so zerstören?
Ich wischte mir erneut über die Augen und sah wieder an Frau Ohle vorbei, auch wenn mein Blick glasig war. Aber das machte es nicht unbedingt besser.
Jetzt sah ich wieder nach draußen in die Welt, die ich verlassen wollte und stattdessen in einer Klinik saß, wo ich sie durch eine Glasscheibe zwar betrachten, aber nicht anfassen konnte. Aber immerhin verdrängte der Anblick die Bilder meiner Erinnerungen.
Auch wenn es sie nur überschattete. Denn mich davon lösen würde ich wohl nie können.
Kann man sich von seinen schönsten Erinnerungen jemals ganz trennen? Vermutlich nicht. Sonst wäre es vermutlich zu einfach auch die schlechtesten auszuradieren...

Psychiatrie - MexifyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt