Felix saß so verloren auf der Bank, dass ich sofort den Blick abwandte. Die Pfleger hatten ihn vergeblich versucht zu überreden bei der Sporttherapie mitzumachen. Da sie ihn aber auch nicht allein auf der Station lassen wollten, sollte er jetzt auf der Bank sitzen und zusehen. Aber er starrte bloß einfach ins Leere.
Ich kannte diesen Blick. Man nahm die Welt gar nicht mehr wahr, sondern dachte nur noch.
,,Was machen wir heute?", fragte Rezo in dem Moment und zupfte an seinen Netzstulpen herum.
Frau Singer betrat die Halle und sah zu ihm:,,Das dürft doch immer ihr entscheiden."
,,Also Fußball", scherzte Julien, der gerade seine Schnürsenkeln band.
,,Das macht ihr doch immer", stellte sie gelangweilt fest.
Eigentlich hatte Mark die Therapie leiten sollen, wie beim letzten mal. Aber seit er Rewi weggebracht hatte, war auch er nicht wieder gekommen. Laut Julien war das ein gutes Zeichen, dass er nicht auf 2 war. Aber vor allem Felix hatte ihm das nicht abgekauft.
Ich sah unbehaglich durch die Gesichter der Anderen. Keiner von ihnen schien sich für Felix zu interessieren. Sogar Rezo und Julien ignorierten ihn gekonnt. Und vermutlich sollte ich das auch. Seine Probleme waren nicht meine. Aber so einfach war das leider nicht.
,,Wir könnten Basketball spielen", schlug ein Junge vor. Erst glaubte ich ihn nicht zu kennen, dann aber fiel mir unsere Vorstellungsrunde von damals ein. Patrick hieß er. Nur trug er diesmal nicht seinen Pullover mit dem Kürbis, sondern ein schlichtes schwarzes T-Shirt. Ohne Netzstulpen.
Und auch die meisten anderen konnten einfach nur im T-Shirt hier stehen. Außer Rezo und mir trugen sie nur zwei Mädchen und ein Junge. Mein Blick fiel auf meine Arme. Was wäre nur aus meinem Leben geworden, wenn ich nie angefangen hätte? Nie eine Klinge in der Hand gehalten hätte? Ich wollte nicht darüber nachdenken.
Erstens war es sinnlos, weil man das Leben nun einmal nicht ändern konnte und außerdem hatte ich vorhin in der Therapiestunde darüber reden müssen.
Scheiß Therapie.
Sie brachte gar nichts. Sie machte alles nur noch schlimmer. Scheiß Tag. Das ich lebte, machte alles nur noch schlimmer. Ungewollt musste ich wieder zu Felix sehen. Denken wir das gleiche?
,,Also Basketball", hörte ich Frau Singer sagen, ,,Wie macht ihr denn die Teams?"
,,Wir wählen", entschied Rezo sofort.
,,Oho, eine Ravanche also?", forderte Julien ihn sogleich heraus und trat vor Rezo.
Dieser grinste:,,Klar. Du darfst sogar anfangen." Er zwinkerte ihm zu, aber Julien drehte sich nur um und ging einige Schritte zur Seite. Dann sah er sich um.
,,Dann nehm ich dir Mexify weg", er grinste in Rezos Richtung. Ich zuckte bei meinem Namen zusammen. Wieso ich? Ich war genauso miserabel im Basketblall wie beim Fußball. Ich war in allem miserabel.
,,Starker Start", Rezo pfiff beeindruckt durch die Zähne. Ich zögerte noch kurz, dann ging ich in Juliens Richtung.
,,Wir machen ihn fertig", Julien hielt mir seine Handfläche entgegen. Etwas unsicher schlug ich sein High-Five ein, dann stellte ich mich neben ihn.
,,Ich nehme Patrick", wählte Rezo triumphierend und winkte den schlanken Jungen zu sich.
,,Was du nicht weißt, Julien: Patrick hat drei Jahre im Verein gespielt!", fügte er grinsend hinzu. Julien erwiderte das Grinsen wortlos, bevor er weiter wählte.
Ich wandte meinen Blick wieder ab und er blieb unweigerlich an Felix hängen. Immernoch schien er einen Punkt in weiter Ferne anzustarren.
Wenn sie Rewi wirklich auf 2 brachten, würde Felix ihm vermutlich bald folgen. Ohne Rewi würde er nicht mehr essen. Er würde nicht mehr lachen und sich vielleicht für all das die Schuld geben.
Es wunderte mich ein wenig wie viel ich mich mit seinen Sorgen beschäftigte. Es war mir neu, dass ich mich für jemand anderen mehr interessierte, als für meine eigenen Probleme. War das Freundschaft? War es das was ich fühlte?
Meine letzte Freundschaft war so lange her, dass es mir endlos lang vorkam. Was ich damals gefühlt hatte, wusste ich nicht mehr. Aber irgendwas daran, wie ich mit Felix mitfühlte, schien mich an genau dieses Gefühl zu erinnern. War das gut oder schlecht?
Es ist gut Freunde zu haben. Sie muntern dich auf, du bist ihnen wichtig und sie sind für dich da.
Ich sah zu Rezo und Julien.
Nein, es ist schlecht Freunde zu haben. Sie binden dich ungewollt ans Leben. Aber das Seil ist so dünn, dass es reißen wird, wenn ich gehe. Es wird sie zur Klippe schleifen und schmerzhaft dort festhalten. Am Rand, aber ohne Möglichkeit mir zu folgen.
Ein neuer Gedanke schoss in meinen Kopf, als ich an Rezo hängen blieb, der gerade über irgendetwas lachte. Konnte das Seil so stark werden, dass es mich für immer ans Leben band? Gab es ein solches Seil für jemanden, der sterben wollte? Der nur hier war, weil er gerade das nicht geschafft hatte?
Felix hat so ein Seil gefunden. Aber würde es halten? Würde meines halten? Der Gedanke machte mir Angst. Es war eine neue Angst.
Ich dachte daran, wie wir vor ein paar Tagen lachend auf den Betten herumgekugelt waren. Wie wir beim Abendessen gelacht hatten. Konnte mich das am Leben halten? Für immer? Konnte es meine Gedanken übertrumphen, sodass ich leben wollte? Ich schauderte. Vielleicht...
Der Gedanke war neu und er machte mir Angst. Es hatte nie ein vielleicht in meinem Leben gegeben, aber gerade war er da. Der Gedanke an ein "vielleicht" zu denken.
,,Alle bereit?", unterbrach Julien meine Gedanken und sofort nickte ich.
,,Machen wir ihn fertig", hörte ich mich sagen. Neue Kraft schien durch meinen Körper zu strömen. Dieses "vielleicht" war stark. Und gleichzeitig brüchig. Aber ich blendete es aus.
Gerade wollte ich nicht Felix auf der Bank sein. Gerade wollte ich wie Julien sein. Ich wollte Felix ausblenden, mich auf das konzentrieren, das mir Spaß machen könnte. Auch wenn das gerade war, Rezo fertig zu machen.
Ich fixierte das andere Team, ließ meinen Blick über Felix hinweggleiten. Jetzt würden wir Basketball spielen. Später konnten wir uns wieder unseren Problemen widmen. Nicht jetzt.
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Psychiatrie - Mexify
Fanfiction,,Bevor ich an meinen Gedanken sterbe, beende ich es lieber selbst" Nach einem gescheiterten Suizidversuch wird der 17.jährige Mexify in die Psychiatrie eingewiesen. Man will seine Psyche in den Griff bekommen, aber für Mexify scheint es nur noch ei...