-120-

791 84 33
                                    

Ich zog die Arme näher an meinen  Körper heran und fröstelte. Seit gut einer halben Stunde saß ich auf der Holzbank unter dem Pavillion und warf der Tür von Station 4 immer wieder kurze Blicke zu. Aber bisher war niemand erschienen.
Zum einen war das gut, denn so erhöhte es die Chance das nur Luca kommen würde. Andererseits zog die kühle Morgenluft allmählich durch den dünnen Stoff des Hoodies. Eigentlich war es nichtmal sicher ob Luca kommen würde. Er könnte auch irgendwo hinter einem Fenster sitzen und auf Rezo warten, statt sich zu mir zu gesellen. Zumal unsere letzte Begegnung kein schönes Ende gefunden hatte, wenn ich an Juliens Schlag dachte.
Gerade als ich wirklich überlegte wieder reinzugehen und dort zu warten, hörte ich wie sich eine Tür öffnete. Sofort wanderte mein Blick zur Tür von Station 4 und mein Herz begann sofort schneller zu schlagen. Ein großer blonder Junge in Jeansjacke stolzierte lässig zum Pavillion.
Er warf mir einen kurzen Blick zu, als er näher kam. Aber diesen zu deuten versuchte ich gar nicht erst. Stattdessen beobachtete ich ihn dabei, wie er sich auf der Bank mir gegenüber niederließ und mir schließlich ein breites Lächeln schenkte.
,,Du also", murmelte er und verschränkte die Arme, ,,Vielleicht hätte ich es mir schon denken können, als Taddl gestern in mein Zimmer kam und mir sagte, ich würde heute morgen Rezo treffen. Dieses Spiel hatten wir schonmal, nicht wahr?" Er lachte auf und griff in seine Jackentasche. Betont langsam holte er eine Zigarette hervor und steckte sie sich an. Dann zog er einmal daran und blies den Rauch in die kühle Luft.
,,Vielleicht", antwortete ich abweisend und versuchte den Gedanken daran zu verdrängen.
Luca schwieg und musterte mich weiterhin. Seine blauen Augen ruhten wie ein wildes Tier auf mir, bereit mich jeden Moment in Stücke zu reißen. Aber merkwürdigerweise spürte ich keine Nervosität wie beim letzten mal. Vielleicht, weil jetzt alles egal war?
,,Ich brauche eine Klinge", hörte ich mich mit klarer Stimme sagen und erwiderte mutig seinen forschenden Blick. In seine Augen trat eine Spur Interesse.
,,Eine Klinge?", wiederholte er und zog an seiner Zigarette. Dann lächelte er und griff erneut in seine Jacke. Er holte einen kleinen Gegenstand hervor und hielt ihn in die Luft.
,,Eine Klinge, wie diese?", fragte er und nickte zu seiner Hand. Ich musterte das weiße Papier. Genau so eine Klinge. Langsam nickte ich.
,,Eine Klinge wie diese", erklärte Luca, ,,Kostet zehn Euro." Lächelnd sah er zu mir.
Aber diese Aussage hatte ich erwartet. Es war die Lücke in meinem ausgereiften Plan gewesen. Zumindest bis heute morgen.
,,Ich habe kein Geld", ich nickte in Richtung der Klinge, ,,Aber ich kann dich anders bezahlen."
,,Oh", Luca lächelte entzückt und beugte sich vor, ,,Jetzt machst du mich neugierig, Mexify."
Ich musterte den älteren Jungen. Diese Neugier in den Augen, die Klinge in seiner Hand und seine offene Art zu sprechen ließen mich dennoch frösteln. Egal wie oft ich darüber nachdachte, ich hatte immernoch keine Ahnung weswegen er hier war oder wie er an all die Klingen kam.
,,Ich kann dir Schmerzen anbieten", hob ich schließlich an und beobachtete Luca genau. Entweder schätzte ich ihn jetzt richtig ein oder ich würde meine einzige Chance verspielen.
Luca musterte mich etwas verwirrt und lehnte sich zurück. Dann zog er erneut an seiner Zigarette und schien nachzudenken.
,,Ich kann dir ein Versprechen geben", ich holte tief Luft, denn diese Worte fielen mir trotz meines Entschlusses nicht leicht, ,,Ich kann dir versprechen, dass du mich nach heute nie wiedersehen wirst." Erwartungsvoll sah ich Luca in die Augen.
Würde er verstehen?
Kurz glaubte ich, dass Luca es nicht tat. Aber dann grinste er und drehte die Klinge in seiner Hand:,,Du verblüffst mich." Er zog wieder an seiner Zigarette und lachte.
,,Du willst dich nicht nur ritzen, richtig?", fragte er und musterte mich neugierig. Ich nickte stumpf. Nein, ich will mehr.
Lucas Miene wurde ernster:,,Du bietest mir also an, dass du gehst und deine Freunde, auch Rezo, daran kaputt gehen werden?" Ja, ich gehe. Aber es wird sie nicht kaputt machen. Nur musste Luca das nicht wissen. Stattdessen nickte ich nur.
,,Du würdest also zulassen, dass Rezo in seiner Verzweiflung zu mir kommt und sich neue Klingen holt? Du würdest zulassen, dass auch er ein letztes mal zu mir kommt, weil er den Schmerz nicht aushält? Und all das versprichst du mir?" Seine Augen durchbohrten mich förmlich.
Ja, das würde ich. Weil es nicht so sein wird.
Eine kurze Welle Schmerz schoss durch meine Brust, bei dem Gedanken, dass es Rezo nichts bedeuten würde.
,,Ja", antwortete ich matt. Luca schien wieder zu überlegen.
,,Eine Klinge für deinen Tod im Tausch gegen Schmerz, in der Tat", Luca betrachtete die Klinge in seiner Hand.
Vielleicht waren wir beide uns ähnlicher, als ich dachte? Nachdenklich musterte ich Luca. Wir beide liebten Schmerz. Aber war das zu vergleichen?
Ich spürte wie mir schon wieder Tränen in die Augen schossen. Lucas Worte hallten durch meinen Kopf. Es wird Rezo nicht kaputt machen. Vielleicht war das einmal so, aber das habe ich verbockt... Ja, genau das war es, was meinen Tod so schmerzhaft machen würde. Das es ihm egal sein würde.
In dem Moment stand Luca auf und ging zu mir. Dann streckte er mir seine Hand mit der Klinge entgegen:,,Ich wünsche ein gutes gelingen." Er grinste. Nachdenklich sah ich auf das weiße Papier in seiner Hand.
,,Na nimm endlich", Luca wedelte damit vor mir herum, bis ich geistesgegenwärtig danach griff und sie sofort in meiner Tasche verschwinden ließ. Dann stand ich ebenfalls auf und musterte Luca für einen Moment. Mein Tod gegen Schmerzen. Es wäre ein fairer Tausch, wenn dem so wäre.
,,Leb wohl Luca", flüsterte ich und umschloss die Klinge mit meiner Hand noch fester. Luca grinste nur, als ich mich abwandt und den Pavillion verließ.
Aber da war keine Freude, keine Euphorie. Nur Schmerz, der sich durch meine Brust zog.
Es würde Rezo egal sein. Er würde heute Abend vielleicht einige Sanitäter durch die Station laufen sehen, aufgebrachte Pfleger hören... aber das würde ich schon gar nicht mehr mitbekommen...

Psychiatrie - MexifyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt